Die Lehre vom Naturrecht

- Kapitel aus dem Buch von Heinrich Rommen, Der Staat in der katholischen Gedankenwelt, Paderborn 1935 -
(Kirche zum Mitreden, 06.06.2002)

Zur Person: Heinrich A. Rommen

Bei den Suchbegriffen "Heinrich Rommen" und ""Heinrich A. Rommen" lieferte die Suchmaschine google nur jeweils knapp 100 Ergebnisse; zum Vergleich: Eine Suche nach "Karl Rahner" brachte ca. 12.800, "Hans Küng" immerhin noch knapp 9.000 Ergebnisse. Auf den Seiten, die "Heinrich (A.) Rommen" enthalten, wird Rommen oft nur ganz beiläufig erwähnt - der Sinnzusammenhang ist üblicherweise das Naturrecht. Kurz gesagt: Rommen ist anscheinend weit gehend in Vergessenheit geraten - ebenso wie die von ihm besonders betrachtete Lehre vom Naturrecht. Zu verdanken ist das nicht zuletzt der V2-Revolution, zu deren Folgen nicht nur die Ausrottung von Katholiken, sondern auch von katholischer Literatur gehört (s. die Literaturempfehlungen).

Die Bibliothek der Georgetown University bietet eine Kurzbiographie mit u.a. folgenden Angaben über Rommen:
- Heinrich A. Rommen (1897-1967)
- berühmter Professor of Government an der Georgetown University von 1953 bis 1967
- geboren in Köln
- Doktortitel an den Universitäten Bonn und Muenster [Rommen war Dr. jur Dr. rer. pol.]
- leitet die "Brand Hitze School near Muenchen-Gladback" [vermutlich: "Franz-Hitze-Schule nahe Mönchen-Gladbach"; Franz Hitze (1851-1921; Priesterweihe 1878) war Sozialtheoretiker]
- Diese Schule wurde 1933 geschlossen und Rommen von der Gestapo verhaftet wegen Veröffentlichung von Anti-Nazi-Literatur und Teilnahme am "Koningswinter Circle"; nach sechs Wochen aus der Haft entlassen, blieb er als Schriftsteller und Rechtsberater in Deutschland bis 1938, als er mit Hilfe des Bischöflichen Komitees für katholische Flüchtlinge in die Vereinigten Staaten kam.
- hatte in Amerika eine große Anzahl verschiedener akademischer Positionen inne
- erhielt an der Georgetown University für seine überragende Arbeit als erster den Rang eines "Distinguished [Hervorragender] Professor"
- Unter seinen zahlreichen Büchern und Artikeln sind die beiden meistbekannten "The State in Catholic Thought, published in 1945" [i.e. das Buch von 1935, aus dem hier zitiert wird], und "The Natural Law, published n German in 1936"
- Die "Heinrich A. Rommen Papers" wurden Georgetown von Martha Rommen, der Witwe des Professors, übergeben: eine Sammlung aus Korrespondenz, Manuskripten, Photos etc., die Rommens Lebensweg in Deutschland und den USA betreffen.

Zum Buch: Der Staat in der katholischen Gedankenwelt

Das Buch erhielt die kirchliche Druckerlaubnis (Imprimatur) am 13.11.1934 vom Generalvikariat Paderborn. HR stellt allgemein, mit nur relativ wenigen Beipielen aus der Geschichte (die Wörter Hitler und Nationalsozialismus kommen in diesem Buch nicht vor), die katholische Staatslehre unter besonderer Berücksichtigung von Thomas und Suarez vor und folgt dabei in weiten Teilen den Erklärungen von von Papst Leo XIII.. Das Buch enthält also die traditionelle Lehre, weswegen man darin vieles finden wird, was bereits an anderer Stelle bei KzM dargelegt wurde, etwa über die Todesstrafe, das Widerstandsrecht oder die Freiheitsforderungen der Kirche. Naturrecht resp. - als Gegensatz - Rechtspositivismus ist eines der Schwerpunktthemen von KzM, weswegen auch das diesbezügliche (dritte) Kapitel aus dem Rommen-Buch hier zitiert wird. Bekanntlich lehnen wir eine Verballhornung des Naturrechts ab, bei der das Naturrecht zum Spielball privater Ideologien und Interessen wird, etwa zum "Naturrecht der Geheimräte und Ratgeber des aufgeklärten absoluten Fürsten" (HRS 99). "Naturrecht", das diesen Namen auch verdient, ist eine objektive Größe; deshalb bleibt unsere Kritik am Richter im Antichristenspiel-Prozess bestehen: "Das scholastische Naturrecht ist nichts anderes als die organische Zusammenfassung jener Normen der Lex naturalis, die das Gemeinschaftsleben betreffen und deren Objekt sich mit der Gerechtigkeit deckt. Die moralische Ordnung aber stützt sich ganz und gar auf die ontologische Ordnung der Wesenheiten aller Dinge und Geschöpfe" (HRS 102). Ebenso sehen wir keine Möglichkeit, unsere Kritik an der Sozietät Redeker, die sich übrigens noch immer nicht bei uns gemeldet hat, zurückzunehmen: Deren mutwilligen Verstoß gegen das Naturrecht billigen wir nicht.
Die meisten Internet-Texte über Rommen waren in englischer Sprache, und nirgends haben wir deutsche Auszüge aus Rommens Staatsbuch gefunden, was den Ausschlag für die Veröffentlichung dieses Kapitels gegeben hat. Bedauerlich ist das häufige Fehlen exakter Quellenangaben, d.h. oft wird als Quelle nur "Thomas" etc., nicht aber das betreffende Werk, geschweige den die genaue Stelle genannt.
Zum Einlesen einige kürzere Ausschnitte aus dem Rommen-Buch:

(aus: Das Ziel des Staates)

145f
Alle, die dem Staate allgemein, nicht nur hic et nunc, das Schwert, das Recht der Todesstrafe und das Recht zum Kriege (Jus belli), absprechen, können ihn nur rechtfertigen, wenn sie sein Ziel lediglich die Summe der Wohlfahrt der Einzelnen sein lassen. Auch für den, der "den Boden der empirischen Forschung nicht verlassen will", ist die Frage nach dem Ziel überflüssig; er kann den Staat aber dann auch nicht mehr als dem "objektiven Bereich der Sittlichkeit" angehörend legitimieren und muß in einem unfruchtbaren Positivismus verharren, der freilich äußerlich langt, solange das konkrete Staatssystem einfach hingenommen wird, aber bei politischen Erschütterungen versagen muß; anders: Positivismus ist immer staatstheoretische Unfruchtbarkeit, Ende, nicht Anfang und Höhepunkt des Denkens über den Staat.

(aus: Die Lehre von der Staatsgewalt)

186.188
Das Gemeinwohl ist der zentrale Begriff und die sittliche Legitimation der Staatsgewalt. Es ist der Sinn, die Zielursache (Causa finalis) des Gesetzes, dieser wesentlichsten Prärogative der Staatsgewalt. Und das so sehr, daß das Gesetz seine verpflichtende Kraft aus dieser direkten oder indirekten Hinordnung auf das Gemeinwohl erhält. Die besondere Gerechtigkeit, die diesen Ordo der Verwirklichung des Gemeinwohles beherrscht, ist die Gemeinwohlgerechtigkeit (Justitia legalis). [...] Die Staatsgewalt beruht also als solche auf dem Naturrecht. Diese Feststellung bedeutet vor allem, daß der Herrscher seitens der Kirche, also naturrechtlich, keiner Bestätigung bedurfte oder etwa als Nichtchrist von selten seiner christlichen Untertanen. Es gibt keine "Libertas christiana", wie sie von Schwarmgeistern gefeiert wurde, die eine rechtliche Herrschaft von Nichtchristen über Christen verböte. Die einzige und ausreichende Legitimation der Staatsgewalt ist das Naturrecht und die Erfüllung ihrer Pflicht dem Gemeinwohl gegenüber. Auch die mittelalterliche Kirche, die die Herrscher weihte und salbte, übergab ihnen damit nicht die mit ihrem Amte bereits gegebene Gewalt. Die Staatsgewalt bedarf im strengen Sinne, um rechtlich Staatsgewalt zu sein, nicht der Taufe; und der mittelalterliche Ritus der Salbung und Weihe war nur eine "symbolische Taufe des irdischen Staates".

231-234
Die christliche Staatslehre hat bis in die neueste Zeit den echten Begriff des Tyrannen gehabt, der nicht nur für den Usurpator, sondern auch für den "legitimen" Fürsten gilt, welcher seine Macht illegitim anwendet.  Das Ziel der staatlichen Gewalt fällt zusammen mit dem Ziel des Staates: "Die Wahrung des Gemeinwohls ist nicht nur das oberste Gesetz, sondern Grund und Endzweck der staatlichen Gewalt überhaupt" (Leo XIII.). Tyrann war also nicht nur der "Usurpator", der Räuber der legitimen Herrschaft, Tyrann war auch der bisher legitime Herrscher, wenn er sich zu seinen Untertanen verhält wie der Herr zu seinen Sklaven, der Künstler zu seinem Werkzeug, einzig seinen Nutzen, nicht das Gemeinwohl im Auge hat, als "Räuber ihrer (der Untertanen) Freiheit" erscheint (Thomas). Gegen den Tyrannen hat die ganze Vorzeit ein Widerstandsrecht des Volkes für gegeben erachtet. Denn das tyrannische, das heißt nicht auf das Gemeinwohl direkt oder indirekt bezogene Gesetz ist ungerecht, ist nicht verpflichtend. Ihm dürfen, ja müssen unter Umständen die Untertanen einen passiven Widerstand entgegensetzen. Aber auch ein Recht zum aktiven Widerstand kannte die Vorzeit. Nicht jede Erhebung gegen die Staatsgewalt, meist ja den Monarchen, war "Seditio" (ungerechter Aufstand); und das gilt nicht nur für den "Usurpator", den Tyrannen im staatsrechtlichen Sinne, den "Invasor", sondern auch für den Tyrannen im ethischen Sinne, den legitimen Fürsten, der zum Tyrannen wird dadurch, daß er sich schwer am Gemeinwohl vergeht. Dieser aktive Widerstand, dessen Grenze natürlich auch da liegt, wo durch Widerstand eine noch größere Unordnung und Verletzung des Gemeinwohles entstehen wird, als sie durch den Tyrannen bereits entstanden ist, ist eben berechtigte Notwehr des Volkes, Befreiung vom ungerechten Bedrücker. Wer der jeweils Berechtigte ist, das entnehmen die Lehrer der Vorzeit meist dem geltenden Staatsrecht, das ständisch-dualistisch aufgebaut war. (Eine Ausnahme bildet hier der Tyrann im staatsrechtlichen Sinne, der "Invasor", der Staatsfeind schlechthin ist; jeder Bürger hat das Recht, ihn zu töten, denn er ist weder König noch Herrscher, er ist der Feind des Staates; immer aber gilt die Klausel: wenn dadurch nicht noch größere Unordnung und größerer Schaden des Gemeinwohles entsteht.) Im Falle der Tyrannei des legitimen Königs haben solche Magistrate bezw. Staatsorgane das Recht, den König abzusetzen, aus Gründen des Naturrechtes und um der Erhaltung der politischen Einheit des Staates willen. [...] Das ist auch der Grund, weshalb zum Beispiel Leo XIII. in der irischen Frage dauernd vor dem aktiven Widerstand der Nationalisten warnt. Man darf nicht auf ein absolutes Verwerfen des Widerstandsrechtes schließen. Es wurde in dem Maße überflüssig, als verfassungsrechtliche Institutionen seine politische Funktion in den Verfassungsstaaten übernahmen. Immer freilich muß die unveränderliche Grenze eines solchen Widerstandsrechtes scharf gesehen werden; wie es seine Legitimation selbst aus dem Gemeinwohl zieht, so wird es dann selbst falsch und ungerecht, wenn seine Anwendung eine noch schwerere Schädigung des Gemeinwohles, des Ordo, mit sich bringt. Es muß also unter Umständen auch Unrecht geduldet werden, und nur die im positiven Recht zur Verfügung stehenden Mittel dürfen angewandt werden; um des Gemeinwohles willen darf und muß eben auch ein Einzelner oder ein gewisser Teil des Volkes zeitweise Unrecht erdulden. Die zentrale Bedeutung des Gemeinwohles läß die christliche Staatslehre also auch das Prinzip der Revolution abweisen.

237
Auch also nach der christlichen Staatslehre ruht naturrechtlich der "Pouvoir constituant", die Rechtsmacht, sich eine bestimmte Form der politischen Einheit und Existenz zu geben, bei der Volksgemeinschaft, die, zielstrebig sowohl wie lebensmäßig bereits existent, in der rechtlichen Organisation ihre Vollendung erfährt. Hat sich aber einmal die Volksgemeinschaft eine positive Ordnung zur Erreichung des Gemeinwohles gegeben, hat sie einer durch die in ihr wirkenden Kräfte entstandenen sozialen Ordnung durch "Zustimmung" rechtsverbindliche Kraft gegeben, dann verpflichtet diese Ordnung aus ihrem eigentlichen Rechtsgrunde, als Ordnung der Verwirklichung des Gemeinwohles. Auch die "Volkssouveränität" bedeutet nicht absolute Macht, Freisein gegenüber dem Naturrecht und dem göttlichen Recht. Auch die Mehrheit eines demokratischen Parlamentes ist nicht absolut. Und die positive Verfassung verpflichtet solange, als sie das Ziel ihres Gehens, das Gemeinwohl, verwirklicht. Dienst an der Erfüllung des Gemeinwohles, das ja kein abstrakter Begriff, sondern geschichtlicher Zustand ist, das ist nächst der mittelbar göttlichen die unmittelbare Legitimation jeder Staatsgewalt.

(aus: Staat und Kirche)

296f
"Wenn auch die Kirche daran festhält, daß es an sich nicht erlaubt ist, den verschiedenen Religionsformen grundsätzlich dieselbe Daseinsberechtigung zuzuerkennen wie der wahren Religion, so tadelt sie darum doch nicht die (katholischen) Staatslenker, die um der Erreichung eines hohen Gutes willen oder zur Verhütung eines großen Übels nach Herkommen und Gewohnheiten dulden, daß diese (anderen Religionen, nichtkatholischen Bekenntnisse) im Staate bestehen" (Leo XIII.). Der Protest der Päpste ging immer gegen die "Zerreißung der Verbindung von Staat und Kirche, die in feierlichen Verträgen festgelegt war" (Pius X.). Für überwiegend katholische Völker ist das Gegebene der Glaubensstaat, die Verbindung von Kirche und Staat; daß zum Glaubensstaat kein Glaubenszwang gehört, ist von der Kirche immer anerkannt worden; der Glaubenszwang ist ein Kind des fürstlichen Absolutismus. Von diesem milderen Typ der Trennung von Staat und Kirche ist zu unterscheiden der radikale Typ. Hier herrscht die Ansicht, daß "in allen Rechtsverhältnissen der menschlichen Gemeinschaft, den Einrichtungen, Gebräuchen, Gesetzen und Ämtern des Staates, im Jugendunterricht die Kirche vollständig unbeachtet zu bleiben habe, als wenn sie überhaupt nicht da wäre; höchstens soll es den einzelnen Bürgern gestattet sein, wenn es ihnen gut dünkt, ganz privatim der Religion zu obliegen ... Das läuft fast darauf hinaus, den Glauben an Christus auszutilgen und, wenn es möglich wäre, Gott selbst aus der Welt zu verbannen" (Leo XIII.). Hier wäre aber alle Ordnung der Werte und Ziele geradezu umgestürzt: Ein heidnischer Staat des prinzipiellen Unglaubens toleriert die katholische Religion nur als Privatangelegenheit einzelner Bürger. Politik und Moral haben nichts miteinander zu tun. Übernatur - Kirche - Sakrament sind überwundene Dinge, Zauberformeln für Unmündige, die man zuläßt, wie man Astrologie und Kartenlegen zuläßt und verbietet, je nachdem man es aus Gründen der Staatsräson für notwendig hält oder nicht. Leo hatte schon recht, wenn er den Sinn dieser Trennung in der gewollten Paganisierung des Lebens sah, wenn er folgerte, daß, "in dem Augenblick, wo die Kirche durch Benutzung der Hilfsmittel, die das allgemeine Recht auch dem letzten Bürger noch läßt, dennoch ihrem Werk den Erfolg zu sichern weiß . . ., dann der Staat eingreifen wird, um die Katholiken als außerhalb selbst des gemeinen Rechtes stehend zu erklären". Dieser Typ, wie er bei der Trennung von Kirche und Staat namentlich in den romanischen Ländern vorherrscht, ist nichts anderes als eine Form der Kirchenverfolgung. Der mildere Typ ist nur unter gewissen Umständen zu tolerieren. Das Gegebene ist die Verbindung von Staat und Kirche, die sich auch im faktisch "neutralen" Staat in der Gestalt des Konkordats betreffend die Regelung der Res mixtae noch zeigt und dem Wesen und den Zielen beider als vollkommene Gesellschaften angemessen ist.

(aus: Schlußwort [Ende])

356f
Weil die christliche Staatslehre den Wert des Staates nicht in Nützlichkeit und gut funktionierender sozialer Technik sah, sondern als Verwirklichung hoher sittlicher Werte, deshalb konnte sie der Herrschaft und Macht sittliche Autorität, dem Gehorsamen und dem Dienst menschliche sittliche Würde geben. Wer dem Gesetze treu ist, der ist Gott treu. Und wer da herrscht, herrscht durch Gott. Aber der Staat ist nicht der höchste und nicht der einzige und ausschließliche soziale Wert. Er ist nicht der höchste, ist nicht der ganze Umfang der Sittlichkeit, ist nicht präsenter Gott. Über ihm steht das Heil der Seele. Unabhängig von ihm in Freiheit lebt die Kirche, das Volk Gottes. Innerhalb seiner Grenzen und oft über diese hinaus lebt die eigenständige Volksgemeinschaft, sich offenbarend in Sprache, völkischem Geistesgut, Kultur, als für sich seiende Lebensform der Vergemeinschaftung des Menschen. Unter ihm leben die Verbände seiner Bürger, sich gliedernd nach beruflich-ständischen Gesichtspunkten im Wirtschaftsvolk, nach ihrer Eigenart an Religion und Geistesart im Kulturvolk; unter ihm und durch keine seiner Veranstaltungen und Einrichtungen ersetzbar lebt die Familie in ihrem naturrechtlichen freien Bereich. In ihm und ihn nährend, dennoch für ihn heilig in ihrem innersten Sein und Wesen lebt die christliche Persönlichkeit. Sie alle können dauernd nicht sein ohne den Staat und seine Ordnung. Aber er kann hinwiederum als sittliche Größe nur bestehen und darum dauern, wenn er ihre Lebensrechte anerkennt und achtet. Dem Christen ist der Staat von Gott gesetzte Lebensform. Ihm zu dienen, an seiner Vervollkommnung und Vollendung mitzuarbeiten, ist seine religiös begründete sittliche Pflicht; denn im Bürgersein in einem Staate, der wahrer Ordo rerum humanarum ist, vollendet sich im Irdischen die Idee des Menschen und seine soziale Natur. In der Erfüllung dieser Aufgabe aber ist er, in dem Maße, wie er Bürger ist, auch Christ.


 

Heinrich Rommen
Der Staat in der katholischen Gedankenwelt
Paderborn 1935

III. Die Lehre vom Naturrecht (Ss. 69-102)

Wenn sich die christliche Staatslehre gern auch die naturrechtliche nennt, so kann sie das nach zwei Seiten hin rechtfertigen. Sie will erstens damit sagen, daß der Staat dem Bereiche der Natur angehört, daß er aus der Natur des Menschen, nicht seinem freien Willkürwillen, wenn auch nicht ohne das freie Wollen des Menschen, entsteht, daß er also nicht unmittelbar als dieser Staat von Gott gegründet wurde, sondern mittelbar durch die im Reiche der Natur wirkenden Zweitursachen (Causae secundae) hindurch, denen damit die aus geschichtlicher Verumständung notwendige konkrete Gestaltung des Staates überlassen wird. Sie will aber dies ergänzend zweitens sagen: Diese konkrete Gestaltung selbst ist aber doch wieder an die aus der Natur des Menschen und des Staates als Idee einsichtigen und als von Gott gegeben erkannten Normen des natürlichen Sittengesetzes und seines Teiles, des Naturrechtes, gebunden. Damit hatte sie eine der Grundfragen jeder Staatslehre in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt, die nach dem Verhältnis von Staat und Recht.

Immer, wenn der sinnende Geist vor der zwingenden Macht des Staates mit dessen Rechtsanspruch des Gehorsams steht, erhebt sich die Frage nach der sittlichen und rechtlichen Legitimation des Staates. Wenn man diese Frage, nicht wie der Anarchist es tut, für völlig falsch hält, dann bleiben eigentlich nur zwei mögliche Antworten übrig: Die Macht ist in sich Recht, oder: Es gibt ein Recht vor dem Staat, dem er sein Recht erst dankt, das mich verpflichtet, ihm zu dienen, weil die Quelle alles Rechts, Gottes Wille, es befiehlt. Die erste Antwort befriedigt nicht; ob man das Recht des Staates einfach auf einen brutalen Erfolgsbeweis gründet, ob man es sich als im Flusse der Geschichte erwachsen aus dem Volksgeist, sterbend mit ihm oder der Umwelt, die es erstehen ließ, vorstellt, oder als Fixierung lange geübter Gewohnheiten, oder etwa nur als Überbau über den Produktionsverhälnissen, das genügt nicht. Denn diese letzteren Ansichten erklären ja nur das Entstehen und Vergehen der geschichtlichen Rechtssysteme der Völker, sie sind Beschreibung, nicht Erklärung. Es muß ein Recht geben, das logisch vor dem Staate, wertordnungsgemäß über ihm steht, eines, dem er erst sein Recht verdankt. Die Weisheit der Griechen schon nannte es: das von Natur Gerechte; seit den großen Rechtslehrern der Griechen nennt man es Naturrecht. Nicht jeder Generation ist dieser Begriff geläufig. Wenn Metaphysik nichts galt, sondern nur dürrer Positivismus, dann war oft nur die christliche Philosophie die einzige Heimstätte - und das ist ihr unbestreitbares Verdienst (Radbruch). Wer immer die Geschichte aber von Recht und Staat durchgeht, er wird feststellen müssen, daß es eine "ewige Wiederkehr des Naturrechts" gibt. Zeugen einer solchen Wiederkehr sind wir selbst seit dem Weltkriege.

Für die Wiederkehr des Naturrechts in unseren Tagen liegt ein gesamtgeistesgeschichtlicher Grund in der Auferstehung der Metaphysik. Für die Metaphysik ist der mundus intellectualis eine Einheit, ein Kosmos. Die geistige Einstellung zu Weg und Ziel der Erkenntnis ist grundlegend. Es ist klar, daß in einer der Methode nach mehr naturwissenschaftlich eingestellten Zeit, da die Welt abgejagt wird nach Tatsachen, da man sammelt und weniger verarbeitet, solche Wissenschaften wie die Metaphysik kaum beachtet werden. Die geistige Welt der jeweilig zur Einheit strebenden, am Bau der Wissenschaften Arbeitenden ist aber ein Kosmos, nicht ein beziehungsloses Nebeneinander, sondern ein inniges Verschlungensein, ein Miteinander der Einzelgebiete. Wenn nun heute die Menschheit müde ist der Jagd nach bloßen Tatsachen, gemäß der rein induktiven Methode eines naturwissenschaftlich eingestellten Zeitalters, wenn wieder von der "Auferstehung der Metaphysik" gesprochen wird, von einem "thomistischen Frühling", wenn die Psychologie, bisher eine Psychologie ohne Seele, die Seele wiederentdeckt, dann ist es nur folgerichtig, wenn die Rechtslehre wieder zur Rechtssubstanz, zum Naturrecht, auf irgendeinem Wege kommt. Ein Blick in die Literatur über allgemeine Rechtslehre beweist das. Vor fünfzig Jahren hatte Bergbohm seinen kompakten Angriff gegen das Naturrecht gemacht, das er als mystisches Etwas, als "Metaphysik" verbannen wollte aus der Rechtslehre. Heute findet man keinen Spott mehr, wenn man vom Naturrecht spricht. Während des Krieges gerade setzte das Interesse für das Naturrecht besonders ein, weil man zur Begründung des Völkerrechtes seiner zu bedürfen glaubte. Mit der Revolution verstärkte sich das Interesse am Naturrecht. Denn mit ihr verschwand die notwendige geistige Fundierung des überkommenen Rechts, in dem man bis dahin als alltäglichem Kleide gelebt hatte. Es ist eine uralte Erfahrung, daß man gerade in revolutionären Zeiten von einer ewigen Wiederkehr des Naturrechts sprechen kann. Das war so unter Cromwell und seinen Soldaten. So kam Grotius nach dem Zusammenbruch des internationalen Staatenrechts um 1625 herum zur Idee des Naturrechts; so rechtfertigten die geistigen Vorläufer der französischen Revolution ihren Umsturz des bestehenden Staatsrechtes, genau so wie die Väter der amerikanischen Verfassung in ihrem Kampf gegen das Mutterland sich des Naturrechtes bedienten. In allen Zeiten, wo das bestehende Recht, namentlich das Staatsrecht, nicht mehr einfach hingenommen wird, genügt eben die Tautologie "Recht ist, was befohlen ist" ("Jus est, quod jussum") dem unsicher gewordenen Geist nicht mehr. Hinzu kam dann noch, daß der Rechtspositivismus bereits in der Vorkriegszeit in seiner intellektuellen Dürre erkannt worden war. Die Lehre von den Rechtsquellen, gewisse Argumente der Freirechtsschule, die "reine" Rechtslehre hatten ihn bereits unterhöhlt. Der Positivismus behauptet, daß alles Recht lediglich einer Quelle entstamme, dem Willen des Staates, der das Monopol der Rechtsetzung habe. Recht ist Wille, nicht Vernunft. Nun verweist aber bereits das Gesetz "heimlich" auf andere Rechtsquellen als den Willen des Gesetzgebers. Wenn von Treu und Glauben, wenn von der Verkehrssitte, von der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes gesprochen wird, dann handelt es sich nicht mehr um den Willen des Gesetzgebers, vielmehr wird dieser Wille dem Richter eine Erinnerung an eine andere Rechtsquelle: die Rechtsüberzeugung der Gesellschaft, eines Berufsstandes. Und weiter. Da notwendig das Gesetz nicht alle Einzelfälle des praktischen Lebens voraussehen kann, ist der Richter, trotz seiner Gebundenheit an das Gesetz, öfters darauf angewiesen, Fälle, die sich nicht unter die allgemeine Regel des Gesetzes subsumieren lassen, "praeter legem" zu entscheiden; denn entscheiden muß er, da er sich sonst den Vorwurf der Rechtsverweigerung zuzöge. So finden wir denn sogar unter der theoretischen Herrschaft des Positivismus nicht wenige Urteile der höchsten Gerichte, die von Billigkeit, von gerechter Würdigung usw. sprechen. Es sind durchaus nicht alle Urteile Folgerungen logisch-analytischer Art aus dem Gesetze, obwohl natürlich der Richter immer wieder versucht, mit Hilfe der Gesetzauslegung das Urteil zu verkleiden; die Gesetzmäßigkeit aller Urteile ist (nach Oskar Bülow) aber eine "Fiktion". Alle Urteilsbegründung aus Treu und Glauben, aus berechtigter Verkehrsanschauung, aus einer gerechten Ausgleichung der entgegenstehenden Interessen, aus Grundsätzen der Billigkeit - alles Ausdrücke aus Reichsgerichtsentscheidungen -, das alles bedeutet aber immer ein Zurückgreifen auf die allerletzten und allgemeinsten Grundlagen der rechtlichen Urteile, auf die Frage, ob das Ergebnis der Gerechtigkeit entspreche oder nicht. Die Notwendigkeit solcher Entscheidungen, bei denen also die Frage nach dem konkreten Recht oder Unrecht nicht aus dem Willen des Gesetzgebers - nach dem Positivismus der einzigen Rechtsquelle - beantwortet werden kann, sondern aus dem einzelnen Falle heraus neu bearbeitet werden muß, diese Notwendigkeit bedeutet, daß auch eine andere, eine ursprüngliche, unabgeleitete Rechtsquelle da sein muß, ein "natürliches" Recht. Das bekannte Suchen nach dem, was der Gesetzgeber "gewollt" habe, gründet oft auf der nicht näher begründeten Annahme, daß der Gesetzgeber eben immer das Gerechte und Billige wolle. Das posivistische Dogma von der Lückenlosigkeit des Gesetzes - als dem Willen des Gesetzgebers - ist damit genau so unhaltbar wie die Lehre, daß Gesetz lediglich Wille sei und mit den aus der natürlichen Ethik stammenden Kategorien "gerecht - ungerecht" nichts zu tun habe. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn im schweizerischen Zivilgesetzbuch ausdrücklich der Richter angewiesen wird, daß er, wo Gesetz, Gewohnheitsrecht, bewährte Lehre oder Überlieferung versage, sein Urteil nach der Regel zu sprechen habe, die er als Gesetzgeber aufstellen würde. Man hat in der Schweiz das Trugbild, der Richter wende stets und in allen Fällen das gesetzte Recht an, richtig gewertet. Denselben Befehl an die Richter enthält das italienische Gesetzbuch, das alte, nicht zur Wirkung gekommene Statut des internationalen Obersten Gerichtshofes und das heute von den meisten Staaten der Welt angenommene Statut des internationalen Gerichtshofes im Haag (Art. 39).

Weiter ist vor allem auf die Unmöglichkeit einer posivistischen Grundlegung des Völkerrechts aufmerksam zu machen. Denn gerade beim Völkerrecht läßt sich der doch irgendwann einmal deutlich hervorgetretene Wille des Rechtsetzenden selten nachweisen. Statt alles Weiteren ein grundlegendes Zitat aus v. Liszts "Völkerrecht": "Die Völkerrechtsgemeinschaft beruht auf dem Gedanken des Nebeneinanderbestehens verschiedener Staaten mit gegeneinander abgegrenzten Herrschaftsbereichen, mit gegenseitig anerkanntem Machtbereich. Aus diesem Grundgedanken folgt unmittelbar eine ganze Reihe von Rechtssätzen, durch welche Rechte und Pflichten der Staaten untereinander bestimmt werden, die keiner besonderen Anerkennung bedürfen" (deren Quelle aber nicht der Wille der sich einigenden Staaten, sondern die aus der Natur der Völkerrechtsgemeinschaft diese Sätze deduzierende Vernunft ist). "Die aus diesem Grundgedanken sich ergebenden Rechte kommen ohne weiteres einem jeden Staate als Mitglied der völkerrechtlichen Rechtsgemeinschaft zu; Vereinbarungen zwischen Staaten, die diese Rechte zum Gegenstand haben, besitzen lediglich deklaratorischen Charakter, oder es handelt sich dabei um die Einzeldurchführung des an sich selbstverständlichen Prinzips." Diese Ausführungen könnten wörtlich in einem naturrechtlichen Traktat von Suarez oder Bannez oder Franz von Vittoria stehen. Es ist hier der Ort, auch vom Schutz der nationalen Minderheiten zu sprechen. Da dieser Schutz ein völkerrechtlicher und kein bloß staatsrechtlicher innerhalb der Staaten mit Minderheiten aus lediglich innerpolitischen Gründen sein soll, so kommt man zur Begründung dieses Schutzrechtes ganz von selbst auf die naturrechtlichen Eigenrechte der nationalen Minderheiten, auf Rechte, die vor den sie bloß deklarierenden positiven Verfassungsgrundsätzen der Staaten mit Minderheiten und der Völkerrechtssatzung über den Minderheitenschutz rechtlichen Bestand haben. So spricht man denn auch ohne Bedenken vom Naturrecht der nationalen Minderheiten (Wolzendorf). Wie bei allem werdenden Recht, so läßt sich gerade auch heute beim Völkerrecht eine naturrechtliche Begründung nicht entbehren.

Nun bedeutet das alles noch nicht ohne weiteres Naturrecht. Aber es bedeutet eines sicherlich: daß es neben dem positiven Willen des Gesetzgebers noch andere Rechtsquellen gibt. Und durch diese Durchlöcherung des Positivismus dringen dauernd, oft allerdings wegen des Mißkredites, den das individualistische Naturrecht des Rationalismus brachte, anders deklariert, zum Beispiel als "Rechtsgefühl", als "apriorische Grundlagen des Rechts", als "übereinstimmende Kulturnormen", Ideen in die Rechtslehre ein, deren Identität mit dem alten Naturrecht immer deutlicher wird.

Das mag eines von den Beispielen sein, die die ewige Wiederkehr des Naturrechts lehren, das während der letzten Herrschaftsepoche des Positivismus in der christlichen Staats- und Rechtslehre seine Hüterin gehabt hat.

Diese Staatslehre hat das Naturrecht nicht entdeckt; in der Welt, in die das junge Christentum, noch durchzittert von dem Gedanken der baldigen Parusie, eintritt, war die Idee eines natürlichen Rechtes nicht unbekannt. Bei den Griechen begegnet sie uns. Hatte die Kindheit der Völker im Recht den Willen der Götter gesehen, so kam das Mannesalter dazu, ein göttliches Weltgesetz, ein in der "Natur", dem unveränderlichen Substrat des Veränderlichen, sich offenbarendes Gesetz des "ersten Bewegers", der "Weltvernunft", oder wie immer sie dieses geheimnisvolle Urprinzip nennen mochten, als gegeben zu erkennen. Alle menschlichen Gesetze nähren sich von diesem göttlichen Gesetz (Heraklit). Dieses ungeschriebene Gesetz steht über denen der Menschensatzung (Sophokles). Es wurzelt in der Natur des Menschen wie der Staat, spricht durch die innere Stimme des Daimonion, entstammt letzten Endes dem ewigen Geiste (Aristoteles). Auch in dieser ersten Epoche entstehen dem Naturrecht Gegner - die Sophisten. Ihnen ist der Mensch das Maß aller Dinge, die Idee des ewigen Rechtes geht unter. Recht ist lediglich Menschensatzung, Produkt der Geschichte, Wille der Mächtigen. Wie sie, die Sophisten, die Epikuräer und Skeptiker keine metaphysische Geisteshaltung kannten, so auch kein Naturrecht. Diese erste Epoche des Naturrechtes im Abendland läßt bereits die große Antithese, zwischen deren Polen die ganze Rechtsphilosophie schwingt, erkennen: Ist das Gesetz Wille? - Ist das Gesetz Vernunft? Eine befriedigende Lösung kann nur da gefunden werden, wo das "Gesetz", das Urbild und die Quelle aller Gesetze, einem Gott entstammt, der höchste Vernunft und allmächtiger Wille ist. Diese Lösung gab das christliche Naturrecht. Es entdeckte nicht das Naturrecht. Das "einzig Christliche" im Heidentum hatte trotz des Positivismus in der Stoa und in der Rechtsphilosophie der großen römischen Juristen eine Heimstätte gefunden. Die Stoa lehrte das Sein einer allgemeinen Weltvernunft, die zugleich Weltgesetz sei, Quelle aller Gesetze. Mag die Auffassung von dieser Weltvernunft seltsam hin und her schwanken zwischen monistischer, pantheistischer, theistischer Auffassung der Weltvernunft, zwischen naturwissenschaftlichem und ethischem Charakter dieses Weltgesetzes, eine wichtige Funktion erfüllte die Stoa: Sie hielt die Geister offen für eine überweltliche, objektive Norm aller Ordnungen dieser Welt. Namentlich der wortreiche, wenig originelle Cicero hat diese Aufgabe erfüllen helfen. Er ist, wie man sehr zugespitzt gesagt hat, auch eine Art von Kirchenvater gewesen. Er feiert das natürliche Gesetz (die Lex naturalis), das er wechselweise auch Narurrecht (jus naturale) nennt, in den höchsten Ausdrücken: Es ist absolut erhaben über alle menschliche Willkür, unvergänglich, unveränderlich. Aus der Natur des Gemeinlebens weist er das Naturrecht nach. Der Mensch als Teil der Weltvernunft muß, will er Glückseligkeit erreichen, diese Ordnung des Naturgesetzes, der Weltvernunft, im Gemeinschaftsleben erfüllen, das heißt das Naturgesetz verwirklichen. Dessen Inhalt bildet das gesamte Ethos des menschlichen Gemeinlebens. Zwei Momente, die Betonung des unveränderlichen Naturgesetzes und der der christlichen Persönlichkeitsidee mehr als der hellenistische Staatssozialismus gerecht werdende Individualismus, zweifellos vom Geist des römischen Rechts gezeugt, waren es, die das stoische Naturrecht so geeignet machten für die Formung aus christlichem Geist. Ein weiteres Moment kam hinzu. Es war die Distanz der philosophischen Spekulation - Weltstaat aller Freien und Gleichen, Liebe als Grundprinzip des Gemeinleben - von der auf Sklavenwirtschaft und Kolonialraub aufgebauten Wirklichkeit der zerfallenden Kultur, die den Stoikern die Unterscheidung eines doppelten Narurrechtes aufzwang, eines primären des reinen Urstandes mit Freiheit, Vollkommenheit und Gleichheit; eines sekundären mit Sklaverei, Unfreiheit, Zwangsgewalt, eines also, wo, wie die Juristen sagten, nicht die volle Vernunft herrschte, sondern eine durch Sünde, durch böse Gewohnheiten (malae consuetudines) getrübte Vernunft, die sich im positiven Recht ausspreche. Verzweifelnd an der Durchführung ihres Sozialideals, der Vollkommenheit, Freiheit und Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, in einem utopischen Weltstaat, haben die Stoiker dieses Ideal in die Vorzeit des Urstandes verlegt, der Gegenwart die möglichste Annäherung der positiven Gesetze an dieses primäre Naturrecht auferlegend.

Mit dem Schwinden der Hoffnung auf die baldige Parusie des Herrn stand die Christenheit, von den heidnischen Philosophen, Celsus zum Beispiel, als Staat im Staate und deshalb staatsfeindlich angesehen, vor der Aufgabe, die Welt des Staates und des natürlichen Gemeinlebens in ihre Sozialethik hineinzunehmen und sie aus ihr zu gestalten. Aus der verborgenen, für sich lebenden Gemeinschaft der Gläubigen mußte ohne Aufgabe dieses inneren Kernes die "Kirche" werden mit Recht und Lehre und Macht, die der "Welt" gegenübertritt, um sie mitzugestalten. Da waren die von Stoa und römischer Rechtsphilosophie gebotenen Lehren des Naturrechts die geeigneten Formen, der Welt den von Anfang an gegebenen Inhalt, wie ihn das Alte Testament und die Apostel, vor allem Paulus, schon im Kern vermittelt hatten, darzureichen. Sie konnte das um so mehr, als es ihr möglich war, in ihnen spermata tou logou [FN: "Samen des Wortes] zu sehen, da nach Justin dem Märtyrer die Philosophie der Griechen und Barbaren abgerissene Partikeln der ewigen Wahrheit, nicht aus der Mythologie des Dionysos, sondern aus der Theologie des ewigen Logos enthält; die Väter sahen in der Philosophie eben, zwar entstellt und maskiert, aber dennoch erkennbar die Wahrheit der Uroffenbarung hindurchschimmern. Und weiter mußte ihnen die stoische Unterscheidung von primärem und sekundärem Naturrecht kongenial ihrer eigenen Urstands- und Erbsündenlehre erscheinen. Allerdings darf man diesen Einfluß nicht übertreiben. Es waren mehr Auffassungsformen, durch die der Welt der eigentliche Inhalt der Lehre dargereicht wurde. Denn eine Weltanschauung, die den allmächtigen, weisen, gerechten Gott als Urheber der Schöpfung und des Glaubens, der Gnade ansah, als den in der Vorsehung die Welt immerdar Tragenden, der war die Idee einer höheren Weltordnung, eines natürlichen Gesetzes aus Gottes Weisheit und Wille mitgegeben. Nicht nur implicite. Durch den Zusammenhang mit dem Alten Testament (Novus in Vetere latet), den Dekalog, der fast ausschließlich Naturrecht enthält und als unsichtbares über den Menschen stehendes Gesetz von den mosaischen und den Büchern der Weisheit bereits bestimmt wurde, war die Idee des Naturrechtes explicite gegeben; sie brauchte daher nicht mühsam und unter Aufgabe höherer Ideale erst gefunden zu werden als eine geschichtlich bedingte Form des Sich-eingliederns in die ursprünglich ganz und gar verworfene "Welt". Das hat nichts so deutlich bewiesen wie die Ausscheidung der Gnostiker, die solche Gedanken dogmatisierten. Die Väter bauen denn auch ihre Lehre wesentlich auf die Schrift, besonders auch auf Stellen im Römerbrief auf, wo Paulus von der ins Herz geschriebenen Gesetzesforderung spricht und daß die Heiden von Natur aus die Forderung des Gesetzes erfüllen (Rom. 2, 15. 14). Im übrigen kamen sie infolge ihrer drängenden praktischen Seelsorgearbeit mit Ausnahme des großen Bischofs von Hippo nicht zu systematischen Darstellungen der Naturrechtslehre. Sie kommen mehr gelegentlich auf diese Fragen, dann aber sagen sie Treffliches; so zum Beispiel Chrysostomus: "Sage mir, woher haben die Gesetzgeber die Vorschriften über die Ehe, den Mord, über Testamente und anvertrautes Gut, die Verbote, sich gegenseitig zu übervorteilen, und die Normen über unzählige andere Dinge genommen? Gewiß aus der Überlieferung. Aber gehen wir weiter zurück, so gelangen wir schließlich beim Gewissen an. Es ist klar, daß die Gesetzgeber ihre Gesetze auf Grund der Norm erließen, die Gott dem Menschen bei seiner Erschaffung gab; diesem Grundsatz verdanken die Richterstühle ihre Entstehung und ebenso das Strafrecht." Auch haben die Väter die naturrechtlichen Grundsätze eingeteilt in solche, die unmittelbar einleuchten, und in solche, die daraus auf dem Wege der Deduktion, des logischen Schlußverfahrens, gewonnen werden.

Wie auf anderen Gebieten, so hat auch in der Naturrechtslehre der hl. Augustinus zum ersten Male das Thema klar durchdacht und den Spuren der Schrift, der Väter und Philosophen nachgehend einheitlich dargestellt. Das ewige Gesetz, aus Gottes Vernunft und Wille hervorgehend, befiehlt, die natürliche Ordnung einzuhalten. Das ist das Grundgesetz der Kreatur überhaupt, Gesetz im naturwissenschaftlichen, im logischen, im moralischen Sinne. Das natürliche Gesetz ist die Teilhabung am ewigen Gesetze, eine "Intimatio" seitens der vernünftigen Geschöpfe: "Aus dem Lichte Gottes heraus gibt sich die Seele von selbst durch das vernünftige Denken die Mahnung." Der Dekalog ist göttlich verbürgte Deklaration dieses Gesetzes, dieser Lex intima. Von der Lex naturalis aber nimmt alles menschlich gesetzte Recht so Legitimation wie Maßstab, insofern es nur gilt, soweit es jener nicht widerspricht. Bei Augustinus sind also die entscheidenden Ideen gegeben: Das ewige Gesetz, als Teilhabung daran das Naturrecht und als weitere Teilhabung hieran das menschliche Gesetz; die Stufenordnung der Normen; ausgehend von Weisheit und Wille Gottes; die unveränderliche Ordnung alles Geschaffenen, als Gleichnis des Seienden (analogia entis) auf den Schöpfer hinweisend und seinen Willen offenbarend, erkennbar durch die Stimme des Herzens und das vernünftige Denken. Zugleich hellt er ein von der Stoa nur dunkel erahntes Geheimnis auf - glückseliger Urstand - unbefriedete, unvollkommene Welt -, indem er, ohne den Charakter des Naturrechtes als solchen zu ändern, die hinzugekommene Unvollkommenheit erkennt als Folge der erbsündlich verwundeten Natur, durch die aber die reine Natur hindurchschimmert. Indem nun Augustinus den Staat als natürliche Sozialeinheit, als der Natur schlechthin entstammend bezeichnete, nicht dem Zustande der gefallenen Natur, dieser vielmehr nur die Zwangsgewalt des Staates zuschrieb, hat er die christliche Staatslehre als eine auf natürlicher Erkenntnis beruhende Lehre ermöglicht.

Die endgültige, darum aber noch nicht nach allen Seiten hin abgeschlossene Klärung und den systematischen Aufbau erhält das Naturrecht in dem Lehrgebäude des heiligen Thomas von Aquin. Das mannigfaltige Gedankenmaterial, das ihm aus der griechisch-römischen Philosophie, Aristoteles, Plato, der Stoa, aus der römischen Rechtsphilosophie und der kanonistischen Rechtslehre, vom Corpus Juris civilis über Isidor von Sevilla und die Concordantia discordantium canonum Gratians (der bereits versucht, die naturrechtlichen Gedanken der Vorzeit zusammenhängend darzustellen), aus den Ideen Augustins und der Sittenlehre der Schrift zufließt, wird in großartiger organischer Verarbeitung unter Klärung der überlieferten Unterscheidungen: Jus naturale - Jus gentium, sekundäres, primäres Naturrecht, Verhältnis zur Gnadenlehre, Naturrecht und positives Recht, zu einer umfassenden Naturrechtslehre und Rechtsphilosophie ausgebaut und in das Gesamtgebäude seiner Lehre eingeordnet.

Schon die bisherige Darstellung läßt erkennen, daß jedes Naturrecht von seinen metaphysischen Voraussetzungen, unter andern von der Idee des Menschen, wie sie oft am deutlichsten in den mit dem Naturrecht gegebenen Urstandslehren aufleuchtet, aus verstanden werden muß. Das hat für Thomas von Aquin zum Beispiel Sertillanges treffend ausgedrückt, wenn er sagt, die Moralphilosophie, in der die Lex naturalis und als weiteres Hauptthema und Folgerung das Naturrecht behandelt wird, müsse als eine Fortsetzung der Metaphysik angesehen werden. Dabei handelt es sich natürlich wesentlich nur um die entscheidenden Grundprinzipien, nicht etwa um solche Folgerungen aus ihnen, die mit der Länge des Weges des diskursiven Denkens die Stringenz der Grundprinzipien verlieren und positive Entscheidung zwischen mehreren Folgerungsmöglichkeiten verlangen.

Die Metaphysik also vermittelt die wesentlichen Strukturgedanken der Natur, der geschaffenen Welt für die Lehre von Naturgesetz. Was sind nun die wesentlichen Strukturgedanken des Naturrechtes, wie es die katholische Rechtsphilosophie sieht? Wir müssen hier zunächst die spekulativen Grundlagen zu erkennen suchen. Zwei Grundsätze stehen am Anfang dieser Überlegungen: Erstens die Idee der Einheit des Menschengeschlechtes in der sittlichen Vernunft, mag sie auch hinter noch so vielen dämonischen Masken, die die Ethnologie uns zeigt, verborgen und von noch so verschiedenen Rassen-Erbströmen getragen sein. Zweitens der Grundsatz, daß die menschliche Vernunft die Wesenheiten der Dinge mit Sicherheit erkennen könne, daß also der Vernunft als eigentliches Objekt die Metaphysik zugeordnet sei, und daß es eine natürliche ontologische und moralische Ordnung gebe, die ebenfalls unveränderlich sei.

Die unveränderlichen Wesenheiten der Dinge werden von uns wirklich erkannt, damit zugleich, daß sie in einer unveränderlichen Ordnung sind. Es ist nicht so, daß wir, wie Kant meinte, die Wesenheit und die Ordnung, die hinter den Erscheinungen liegen und aus ihnen sprechen, denkend erzeugen auf Grund des geistigen Mechanismus, der Verstandesformen, vielmehr lesen wir die objektive Ordnung aus der Natur der Dinge heraus. Zugegeben, der Mensch kann nur einen kleinen, sehr kleinen Teil der "Welt" aktuell erfahren, aber dadurch, daß er diesen Ausschnitt auf Grund seiner wirklichen Relationen zum Weltganzen als einen wirklichen Teil der Welt erkennt, der in sich schon Ordnung zeigt, ist er logisch berechtigt, auch die Welttotalität als eine Ordnung zu sehen. Die Welt ist ein Kosmos. Diese Ordnung ist mit den unveränderlichen Wesenheiten der Dinge gegeben. Sie stammt also von dem Urheber der Dinge, da ja die Wesenheiten nichts anderes sind als die in den Dingen inkarnierten ersten Ideen Gottes. Diese Ordnung, so sagt die Vernunft, ist aber um eines Zieles willen da. Sie bedeutet ja nichts anderes als die Hinlenkung der Dinge, entsprechend ihrer Natur, durch eine Reihe von Unterzielen auf ein höchstes und letztes Ziel, das nur Gott selbst sein kann. Die Ordnung der Dinge ist eine ideologische auf Grund der materialen Wesenseigenschaften der Dinge. Sie ist ferner eine unveränderliche, nicht eine willkürliche. Denn insofern sie in den geschaffenen Dingen als Wirkung des göttlichen Schöpferwillens erscheint, erscheint sie zugleich als eine ideale, die von der göttlichen Intelligenz zuerst denkend erzeugt wurde, wie ja auch die Dinge nichts anderes sind als unvollkommene Exemplifizierungen der göttlichen Ideen, die unveränderlich sind. Die so gegebene Ordnung wird als das ewige Gesetz bezeichnet.

Die Ordnung der Welt wird als eine seiende durch die spekulative Vernunft erkannt. Nun aber erkennt sich der Mensch als ein freies Wesen, als ein Prinzip, das nicht ganz und gar unter dieser Ordnung steht, sondern ihr in seinem Wollen und Handeln frei gegenübersteht. Indem der Mensch aber erkennt, daß Gott die Ordnung der Welt, welche Vernunft ist, als solche auch von den freien Geschöpfen gewahrt haben will, muß er einsehen, daß die natürliche Ordnung der Wesenheiten der Dinge auch eine solche ist, die sein soll, daß er also als mit freiem Willen begabte Kreatur diese Ordnung auch praktisch verwirklichen soll. So wird die Ordnung der Wesenheiten in ihrer Beziehung auf den menschlichen Willen von selbst zur sittlichen Ordnung. Die Ordnung, die der Natur entsprechend ist, soll auch sein, sie ist nicht nur eine ontologische, sondern auch eine moralische. Das Gesetz, das die Ordnung der Welt objektiv bestimmt, wird für die freien Geschöpfe natürliches Sittengesetz. Es wird also, wie schon gesagt, die Moralphilosophie eine Verlängerung der Metaphysik sein müssen. Um also die natürlichen sittlichen Grundsätze seines Handelns zu erkennen, bedarf der Mensch keines ändern, fremden Prinzips. Es gibt keine zwei "Vernünfte" geschieden voneinander, eine theoretische und eine praktische; es gibt nur zwei Vermögen der einen vernünftigen Seelensubstanz. Der Intellekt, der die Ordnung als seiende erkennt, setzt sie dem Willen als zu verwirklichende vor. Denn indem der Verstand ein Sein erkennt, erscheint dieses Sein dem Willen als Gut, das erstrebt werden soll. Insofern weiter der Satz gilt: Alles Seiende ist als solches gut (Omne ens in quantum ens, est bonum), entsteht eine bestimmte Ordnung der sittlichen Werte, die Widerspiegelung der Seinsordnung ist. Denn es bestimmt ja der Seinsgehalt die Gutheit, die Seinsordnung die Wertordnung.

Es ist klar, daß in der Ordnung der Naturen auch die menschliche Natur miteinbegriffen ist. Die Lex aeterna bestimmt, was ein Wesen aus seiner Natur heraus tun muß. So auch muß das freie Wesen aus seiner Natur heraus frei handeln; und darin besteht eben das natürliche Sittengesetz, daß der Mensch nach seiner vernünftigen Natur handle. So zeigen ewiges und natürliches Gesetz ihre Einheit, indem das natürliche eben Teilhabung am ewigen Gesetz ist. Denn nach seiner vernünftigen Natur handeln, bedeutet ja nichts anderes, als die durch das ewige Gesetz bestimmte Ordnung, die von den freien Geschöpfen als eine solche erkannt wird und deren Verwirklichung als Gottes Wille erscheint, verwirklichen, insofern sie auf die freie vernünftige Tätigkeit des Menschen bezogen wird. Die Entsprechung von Lex aeterna, unter der auch die Gesetze der lebenden und toten Natur verstanden werden, und der Lex naturalis hat mit Biologismus freilich, wie er heute wieder in neuen Formen aufkommt, nichts zu tun. Sittlichkeit, natürliche Ethik ist nicht "Reflex" der biologischen oder rassischen Naturgesetze. Ethik ist nicht reiner geistiger Überbau über dem eigentlichen realen Unterbau des Bios, des "Volkes", der Rasse. Was dem biologischen Sein des Einzelnen und der "Gemeinschaft" des Volkes, der Rasse usw. entspricht, ihr natürlich oder schädlich ist, das drückt sich vor dem Bewußtsein als Ethik, als natürliches Sittengesetz aus, sagt diese Lehre Recht, Moral sind so weit also anzuerkennen, als sie dem biologischen Unterbau (das heißt natürlich den Ansichten über ihn) günstig sind. Die Folge einer solchen Theorie wäre zuletzt doch wieder die bloße Machttheorie des Materialismus. Unsere Auffassung von Lex aeterna und Lex naturalis ergibt aber als entscheidenden Grundsatz: Nur das ist politisch auf die Dauer richtig, was dem natürlichen Sittengesetz entspricht.

Das sind die spekulativen Grundlagen katholischer oder, unter natürlichen Kategorien gesehen, theistischer Naturrechtsphilosophie, wie sie seit der Systematisierung bei Thomas zur allgemeinen Lehre wurden. Das natürliche Sittengesetz, die Lex naturalis erkennt der Mensch durch das Licht der Vernunft (lumen rationis) aus seiner metaphysischen Wesenheit als freies, vernünftiges Geschöpf und aus seinem Ziel. Die vernünftige, soziale, willensfreie Natur des Menschen in und mit der Schöpfungswelt ist das Materialobjekt. Das Licht der natürlichen Vernunft, gegeben vom Vater des Lichtes, von der höchsten Vernunft, das ist das Formalobjekt. Die Unveränderlichkeit aber der Naturen ist begründet in dem thomistischen Grundsatz, daß der Intellekt über dem Willen stehe, eine "vollkommenere Anlage" (potentia perfectior) sei. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen. Denn die Schule Occams setzte den Willkürwillen Gottes um seiner Allmacht willen als Prinzip des Naturrechts. Der positive, absolute Willkür-Willen des allmächtigen Gottes sollte einziges Prinzip der Lex naturalis sein. Dadurch wird der Positivismus in Gottes Wesen hineingetragen, und geschichtlich hat dies ja, wie zum Teil bei dem Luther der ersten Zeit, der aus Occams Schule ist, deutlich wird, zu einem sittlichen Positivismus geführt. Die Alternative, von der das Sein des Naturrechts abhängt: Ist Gesetz nur Wille (Grundsatz des ethischen und rechtlichen Positivismus), oder ist Gesetz Vernunft (Grundsatz des Naturrechtes)? scheint eine Art ewiger Alternative zu sein, nur überwindbar in der christlichen Gottesidee, da Gott höchste Vernunft und allmächtiger Wille in eins und die Vernunft die Potentia perfectior ist.

Nun zum Wesen des Naturrechts als Teil des natürlichen Sittengesetzes. Hier müssen zwei Leitgedanken führen. Erstens Naturrecht enthält diejenigen Normen, die sich aus den apriorischen Ideen der vernünftigen Natur des Menschen, aus seinem natürlichen Wesensziel, aus der Natur der ihm hierzu dienenden Dinge und aus den Wesen der natürlichen sozialen Lebensformen, in denen er sein Wesensziel erreicht, also Ehe, Familie, Gesellschaft, Staat, Staatenfamilie, ergeben, soweit diese Normen den "Anderen" betreffen. Das Gebiet des Naturrechts ist das Sozialleben. Aber es bedarf noch einer weiteren Unterscheidung, damit wir nicht in Pufendorfs Fehler mit seiner Socialitas als dem Grundprinzip des Naturrechts verfallen und das Naturrecht von der Sozialethik unterscheiden können, so wenig es auch von ihr getrennt werden kann. Sie ist enthalten in dem Leitsatz, daß das Recht von der Tugend der Gerechtigkeit aus sich abgrenzen lasse.

Wie unterscheidet sich das aus Gerechtigkeit Geschuldete (Debitum justum) zum Beispiel von dem aus der Tugend der Pietas Geschuldeten? Von dem aus Dankbarkeit Geschuldeten? Der Wohltäter teilt von dem Seinen mit, aber ohne daß das Geschenkte in einer weiteren Beziehung zum Schenker bleibt. Er hat deshalb auch kein Recht im eigentlichen Sinne auf eine Gegenleistung aus Dankbarkeit. Vielmehr würde ein solches Fordern sowohl dem inneren Sinn von Wohltäter wie von Geschenk und Dankbarkeit widersprechen. So ist es auch verständlich, wenn die Dankbarkeit nur ein möglicher Teil (Pars potentialis) der Gerechtigkeit genannt wird, nicht aber ein wesentlicher Teil (Pars subjectiva), der das eigentliche Debitum justum betrifft. Die Gerechtigkeit betrifft also notwendig die der Natur der Dinge entsprechende rechte Ordnung des Soziallebens. Sie betrifft weiter all das, was sich in einer Hinordnung auf eine Person befindet, seien es Güter, die auf die Person hingeordnet sind, seien es Leistungen, die sie von ändern fordern kann und die ihr zu gewähren Pflicht der anderen ist. Die Gerechtigkeit wird so jene Tugend, die als legale die rechte Unter- und Hinordnung der Einzelnen als Glieder (und soweit sie das sind) auf das Gemeinschaftsganze und sein Ziel, das Gemeinwohl (bonum commune), bedeutet; die als austeilende die rechte Verteilung der Lasten und Nutznießungen seitens des Ganzen an seine Glieder, als ausgleichende das rechte geordnete Nebeneinander von Einzelnen als Rechtsgenossen regelt. Das Recht aber (als besonderes Objekt der Gerechtigkeit) stellt sich objektiv als die durch natürliche und positive Gesetze gesetzte Ordnung des Soziallebens unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit, subjektiv als die auf derselben Ebene der zielmäßigen Hinordnung auf eine bestimmte Person liegenden Güter und Leistungen dar. Das objektive Recht ist dann die Gesamtheit der Rechtssätze, durch die das Gemeinleben geordnet und in seinem Bestände und Wachstum geschützt wird.

Aber, so wirft man ein, regeln nicht auch Gesetze, die keinen Rechtscharakter tragen, das Gemeinleben? Soll der obige Satz heißen, daß jede ethische Norm, die kein Rechtssatz ist, keinen Ort im Gemeinleben hat? Durchaus nicht. Im Gemeinleben haben alle Normen, die zum Beispiel aus der Caritas kommen, ihre Berechtigung. Wie unterscheidet sich hier Rechtsnorm und sittliche Norm? Dadurch, daß der ersten das Merkmal der formellen Erzwingbarkeit eigentümlich ist; der formellen, nicht der materiellen, das heißt es bedarf zum Rechtscharakter einer Norm nicht eines faktischen Zwangsapparates; aber es gehört zu ihr, daß sie an sich geeignet ist, erzwungen werden zu können, ohne daß also ihre Eigenschaft als Rechtsnorm dadurch aufgehoben würde. Es ist also nicht der faktische Zwang bestimmend, sondern nur die in der Natur des Rechtsgesetzes liegende Möglichkeit der Zwangsanwendung an sich, die beim sittlichen Gesetz aus seiner Natur heraus nicht vorhanden zu sein braucht. Die rechtliche Handlung verliert durch ihr Erzwungensein nicht ihre rechtliche Qualität. Die erzwungene sittliche Handlung verliert aber eben durch den faktischen Zwang der öffentlichen Gewalt ihre sittliche Qualität. Die vom Richter durch Vollstreckungsurteil erzwungene Unterhaltungspflicht der wohlhabenden Söhne gegenüber den notleidenden Eltern hat zwar ihren sittlichen Charakter für den Sohn verloren, nicht aber ihren rechtlichen Charakter, der sich gerade in der Erzwingbarkeit offenbart. Das führt auch Suarez an, wenn er fragt, ob die Staatsgewalt durch Gesetze "innere" Akte befehlen kann. Denn er antwortet, daß die menschliche Gewalt nur so weit Rechtssätze erlassen könne, als sie die Übertretung derselben bestrafen kann, was aber seinerseits erst möglich wird, wenn sie diese Übertretung erkennen kann. Damit vereint sich dann noch der Satz, daß mit der rechtsetzenden Gewalt notwendig die Zwangsgewalt verbunden ist. Anders beim Sittengesetz: Hier wird die Nichterfüllung von Gott geahndet, aber die Erfüllung nicht unmittelbar erzwungen. Auch die Frage nach dem innern Sinn von Recht und Sittlichkeit ergibt dasselbe. Der Rechtssatz hat an erster Stelle die äußere Ordnung des Gemeinleben zum Ziel, er will die äußeren Umstände regeln, deren die Einzelperson zur Erreichung ihres Wesensziels und insoweit sie ihrer bedarf. ("Lex humana non imperat fieri hoc propter illud, sed, ut fiat hoc.") Es kommt also dem Rechtssatz lediglich darauf an, daß die Handlung überhaupt gesetzt werde, damit die Gemeinschaft, die zur Erreichung der natürlichen Menschenziele notwendig ist, existieren kann; damit der Andere, der Rechtsgenosse, zu seinem Recht komme. Damit ist notwendig die Möglichkeit der Zwangsanwendung gegenüber dem Renitenten verbunden. Es ist dasselbe, was sich im Notwehrrecht offenbart oder auch darin, daß im gerechten Krieg die Wiederherstellung des gebrochenen Rechts nach Naturrecht erzwungen werden kann.

Ein kurzes Wort über das Verhältnis von Naturrecht und positivem Recht. Naturrecht ist nicht lediglich Lückenbüßer des positiven Rechts; es ist notwendig vielmehr die Norm der positiven Gesetze, die nur insoweit verpflichtende Kraft tragen, als sie dem Naturrecht nicht widersprechen. Naturrecht ist die Grundlage des positiven Rechts. Aus ihm werden alle positiven Gesetze abgeleitet. Diese Ableitung nun geschieht auf zwei Weisen. Es ist klar, daß, je weiter man von den ersten Prinzipien zu konkreten Schlußfolgerungen herabsteigt, diese um so unklarer und unsicherer werden; daß also weitgehend verschiedene Ansichten hier aufkommen können, zumal wenn die Unvollkommenheit der menschlichen Vernunft und die Interessengegensätze beachtet werden. Hier bedarf es also einer Autorität, die durch nähere Bestimmung entscheidend diese Schlußfolgerung festlegt. Zum Beispiel um der Rechtssicherheit willen sollen unter der Voraussetzung des guten Glaubens bestimmte Forderungsrechte erlöschen, das heißt verjähren. Hier bedarf es offensichtlich dieser Satzung (Determination). Das Naturrecht regelt das Sozialleben der Menschen in den verschiedenen Sozialformen. Es ist deshalb seinem Wesen nach erzwingbar. Aber in sich selbst hat es keine genügende irdische Sanktion. Da nun die Menschen meist den Trieben und nicht dem Lichte der Vernunft (lumen rationis) folgen, bedarf es einer sanktionierenden Autorität, die die Verstöße gegen das Naturgesetz, auf dem das Sein des Menschen in der Societas beruht, bestraft, das heißt strafandrohende Gesetze festlegt und vollzieht. Die mit der Unvollkommenheit alles Irdischen, mit dem ungerichteten Lebensdrang, dem Triebleben sowohl der Einzelmenschen als seiner Gemeinschaften und Interessengruppen gegebene ständige Bedrohung der Ordnung, der Hang also zum "Chaos" ruft nach der Setzung einer objektiven konkreten Ordnung. Und umgekehrt: das Naturrecht ruft nach der Determination, nach der entscheidenden Bestimmung im positiven Gesetz. Im allgemeinen verhält es sich ja so, daß aus den Notwendigkeiten des Soziallebens der Gesetzgeber einfach befiehlt. Das Naturrecht erscheint oft erst dann, wenn dieses konkrete Gesetz ihm zu widersprechen scheint.

Aber mit dem Herrschen einer positiven Rechtsordnung verliert das Naturrecht keineswegs den Charakter eines objektiven, wirklichen, geltenden Rechts. Es ist durch Gottes Willen gesetzt als Teil des ewigen Gesetzes, es ist durch das Licht der Vernunft erkennbar und in der praktischen Vernunft einsichtig als Gesetz "verkündet" und erhält ebendadurch seine Sanktion. Es ist also nicht lediglich eine ideale Rechtsidee, in die der Mensch sich aus der Unvollkommenheit der menschlichen Gesetze als in ein rechtliches Utopia flüchtet; das Naturrecht ist keine durch logische Abstraktion aus den geltenden Rechtssystemen gewonnene Philosophie des Rechtes, ist keine allgemeine Rechtslehre, welche, mehr pragmatistisch gerichtet, die dem historisch gewachsenen Rechtssystem der herrschenden Gesellschaftsverfassung gemeinsamen Grundnormen (Kulturnormen) darstellt. Wohl sind alle diese Versuche, das positive Recht auf etwas Tieferes zurückzuführen, als es der Wille des Staates ist, ein Beweis für die unbesiegbare Idee des Naturrechtes. Wohl zeigt sich diese Wirklichkeit des Naturrechtes oft erst dann, wenn das positive Recht sich so weit von ihm entfernt hat, daß es ihm widerspricht, wenn es "ungerecht" wird. Das aber setzt nicht irgendein Gefühl bloß voraus, sondern einen objektiven Maßstab. Der formell gesetzmäßig zustande gekommene Staatswille hat aus sich allein nicht die verpflichtende Kraft. Ist das positive Recht ungerecht, so gibt es zum wenigsten den passiven Widerstand dagegen. "Die ursprünglichen Rechte der Person, der Familie, des Volkstums, die schon vor dem Staate Geltung haben, sie treten mit elementarer Kraft hervor und der Staatsgewalt gegenüber, wenn diese tyrannisch regiert und die natürlichen Rechtspflichten gegen das Volk verleugnet. Das ist nur möglich, wenn dieses Naturrecht wirkliches Recht ist; sonst dürfte dieser Ungehorsam gegen das positive Recht nie unsere Billigung finden" (Mausbach). Das Naturrecht erst gibt die Möglichkeit, die politische Geschichte zu verstehen, ohne Naturrecht als wirkliches Recht kann keine Staatslehre ihre Kernfrage, die nach dem Recht des Widerstandes gegen die ungerecht vorgehende Staatsgewalt, beantworten. Wenn im modernen Zeitalter des modernen Rechtsstaates das Naturrecht zurücktrat, so doch wesentlich deshalb, weil die naturrechtlichen Doktrinen die Aufgabe, gegen die ungerechte Anwendung der Staatsgewalt zu schützen, im Verfassungsstaat, der eben positivrechtlich dem ungerecht bedrängten Bürger Rechtsmittel gegen die Staatsorgane in die Hand gibt, bis zu einem gewissen Grade erreicht haben. Aber gerade die hier drohende These, daß der Wille der Mehrheit Recht sei, beweist wiederum die unumgängliche Notwendigkeit eines in Gottes Schöpfung sich offenbarenden, seinen Willen verkündenden Naturrechts, von dem sich alle Gesetze "nähren".

Das Naturrecht ist aber nicht nur ein bloßes Formale, es ist eine echte materielle Rechtsnorm. Das wurde schon durch seine spekulativen Grundlagen deutlich. Freilich sind seiner wesentlichen, unmittelbar evidenten Normen nicht viele; auch das, was als logisch nächste Folgerung aus ihnen folgt, ist nicht soviel, daß es eine positive Rechtsordnung erübrigte. Es bedarf dabei zudem derselben ernsten Gedankenarbeit, wie sie überhaupt die Erforschung der tieferliegenden Wahrheit erfordert. Gewisse Grundsätze sind allerdings so einleuchtend, die Werte und Güter, von denen sie sprechen, wie die Einheit des sittlichen Bewußtseins der Menschheit beweist, so unmittelbar erkennbar, daß sie als evident gelten müssen. Zum Beispiel, daß das Rechte zu tun, das Unrechte zu unterlassen sei; daß jedem das Seine gebühre. Zwar erscheinen diese Sätze zunächst etwas formal und fast inhaltsleer. Sie besagen aber, daß es Handlungen gibt, die lediglich auf Grund positiver Satzung als Unrecht erscheinen, zum Beispiel das Außerachtlassen verkehrspolizeilicher Vorschriften, und solche, die innerliches Unrecht bilden, zum Beispiel Verleumdung, Ehebruch. Denn diese stehen in einem eklatanten unversöhnlichen Widerspruch zu den Grundgegebenheiten der menschlichen Natur. Verleumdung als die lügenhafte Vernichtung der sittlichen Ehre, auf Grund deren der Nächste eben Mit-Mensch, Rechtsgenosse ist, das ist die Verneinung seiner sozialen Lebensgrundlage. Ehebruch widerspricht offen dem Sinn der Ehe und der Gleichberechtigung von Mann und Frau, die aus ihrer Person-Würde stammt. So bedeutet also: "Man soll das Rechte tun, das Unrechte lassen" keinen bloßen Formalismus, der dem positiven Gesetz schlechthin überläßt zu bestimmen, was nun inhaltlich Recht und Unrecht ist. Vielmehr heißt es soviel wie: Handle nach der "Natur". Natur heißt hier Wesenheit - nicht konkrete historische Natur - und Wesens-Ziel zugleich. Und es ist das Nichtwidersprechen gegenüber der "Natur", das auch erst der positiven Satzung die Qualität "Recht" gibt. So ergibt also ein näheres Nachsinnen, daß diese Sätze mit Recht oder Unrecht doch zuletzt etwas Inhaltliches meinen. Nämlich die Verwirklichung der Wesensnatur von Mensch und Ehe als Wesenheiten im konkreten irdisch-sozialen Bereich. Ebenso einleuchtend ist der Satz, daß man keinen falschen Eid schwören darf, daß man nicht morden darf; daß die Familie eine "ewige" Gemeinschaft darstellt und unveränderliche Pflichten der Liebe und Treue, der gegenseitigen Hilfe und des Gehorsams einschließt, weil ohne diese eben Familie als dauernde Lebensgemeinschaft nicht sein kann. Daß die Volksgemeinschaft im Staate sittliche und rechtliche Bindungen erzeugt, eine wahre Autorität um des Gemeinwohles willen trägt, der gegenüber Achtung und Gehorsam gebührt, weil ohne sie eben das Dasein des aus der Natur des Menschen folgenden Staates nicht möglich ist, ist ebenfalls leicht zu folgern. Daß aus dem Wesen des Menschen als Person und aus seiner geistig-leiblichen Wesenheit, aus dem Sein der Familie die Notwendigkeit des Eigentums als Rechtsinstitut folgt, hat Leo XIII. nachgewiesen. Damit ist aber nicht ohne weiteres die gerade positiv geltende Eigentumsordnung schlechthin legitimiert; sie kann durch die historische Entwicklung und Änderung ihres sozialen Milieus geradezu widersinnig werden, wie beim vermachteten Eigentum der liberal-spätkapitalistischen Epoche. Dann verlangt das Naturrecht gerade "des" Eigentums, daß die positive Eigentumsordnung geändert werde, auf daß sie wieder die naturrechtliche Sozial- und Individualfunktion des Eigentums zur Erfüllung bringe; nicht aber folgt daraus, daß das Eigentum als Rechtsinstitution positivrechtlich abzuschaffen sei. So wird deutlich, daß die letzte Begründung des Naturrechtes, das eben nicht starr ist, sondern nach positivrechtlicher Bestimmung ruft, indem es zugleich die Norm dieser ist, wie es die wechselnden Umstände erfordern, die metaphysische Ordnung des Seins ist, das von Gott gesetzte ewige Gesetz. "Der Kern der 'Natur', wie ihn die christliche Philosophie denkt, eben der geistig erfaßte Gehalt der Dinge, vor allem die sittlichen Ziele des Menschen haben eine Universalität und eine Spannweite, die einen großen Wechsel der Formen nach Ort und Zeit gestattet" (Mausbach).

Um die Eigenart dieses Naturrechts der christlichen Staatslehre noch näher zu erfahren, lohnt es sich, einige Unterschiede dieses Naturrechts von dem sogenannten neueren des 17.-19. Jahrhunderts herauszustellen. Wäre das immer geschehen, so wäre auch manches böse Wort gegen "das" Naturrecht unterblieben.

Zunächst muß der wesentlich "unpolitische" Charakter des scholastisch-katholischen Naturrechts auffallen gegenüber dem politisch direkt explosiven neueren Naturrecht.

Das rührt daher, daß das ältere Naturrecht wesentlich bescheidener war als das neuere, vor allem aber, daß es sowohl die Persönlichkeit als auch die Gemeinschaft als gleich wesentlich und ursprünglich betrachtete. Dieses ältere Naturrecht stand zudem noch im engsten Zusammenhang mit einer theistischen Metaphysik; die Natur des Menschen wurde nicht empiristisch einfach festgestellt, sondern als Verwirklichung einer Gottesidee gesehen. Die Vernunft (ratio) und nicht, wie bei Hobbes, die triebhaften Leidenschaften (passiones) war das erste im Menschen. Deshalb spielt auch die grundsätzliche Unterscheidung von einem Status naturalis und einem Status civilis keine Rolle.

Dieses Naturrecht war nicht "polemisch" zugespitzt wie das neuere, es ist politisch "tendenzlos". Es ist, wenn man es recht versteht, "Rahmen"-Recht. Es bestimmt die Grenzen, innerhalb deren in vielen historisch konkreten Rechtsformen das staatliche und soziale Leben sich abspielen kann. Es trägt jede dieser Institutionen und gibt ihr die verpflichtende Kraft. Es besagt, daß politisches Handeln und konkrete staatliche und soziale Ordnung aufhören, sittlich und deshalb auch rechtlich verbindlich zu sein, wenn sie diesen "Rahmen" und damit ihren sittlichen Grund verlassen. Das Naturrecht ist meta-politisch. Man kann aus ihm nicht diese oder jene konkrete Form als die allein berechtigte im logischen Schlußverfahren einfach ableiten. Das naturrechtliche Prinzip: Das Wohl des Volkes ist das höchste Gesetz (Salus populi suprema lex), Verwirklichung also des Gemeinwohles, läßt viele konkrete "aus den Umständen" notwendige Formen zu, sofern sie konkret dem Gemeinwohl dienen.

Das Naturrecht tritt deshalb bewußtseinsmäßig hinter dem positiven Recht zurück und erscheint erst, wenn es um den Bestand der geltenden Rechtsordnung (Ordo juris) geht oder eines ihrer wesentlichen Gesetze den "Rahmen" verläßt, naturrechtswidrig wird; es erscheint im Ausnahmezustand, als dessen Norm geradezu, wenn also die konkrete Rechtsordnung (Ordo juris) der naturrechtlichen Ordnung der Gerechtigkeit (Ordo justitiae) widerspricht Im übrigen ist es durch seine Determination im positiven Recht, obwohl diesem seine echte und eigentliche Legimitation gebend, sozusagen verhüllt. Es gibt auch nicht die politische Entscheidung, es richtet nur die möglichen und legitimiert die richtige. Es genügt eben nicht, daß der Ethiker, der Rechtsphilosoph die Lehre darstellt, es handelt sich um Verwirklichung der Ordnung, und das ist die Aufgabe des Politikers.

Deshalb stellt diese Lehre auch kein Normensystem auf, das den Gesetzgeber sozusagen entbehrlich macht. Dies Naturrecht verlangt das positive Recht. Deshalb ist es auch so unpolitisch. Aus ihm kann man weder die Güte der absoluten Monarchie noch die unmittelbare noch die mittelbare Demokratie als einzig berechtigte Staatsform ableiten.

In all diesen Punkten unterschieden sich nun die folgenden "Natur"-Rechts-Systeme. Sie gehen vom abstrakten isolierten Menschen aus. Hobbes will die Menschen betrachten, als wären sie plötzlich wie Pilze aus der Erde geschossen und erwachsen (adulti) ohne jede Verpflichtung eines zum anderen. Deshalb sucht er sogar, um die Gehorsamspflicht des Sohnes dem Vater gegenüber zu erklären, nach einem Vertrag, einer rechtlichen Einigung usw. als der Grundlage der Gehorsamspflicht. Nicht aus einem Sein also entspringt das Sollen, aus dem Sohn-Sein die Gehorsamspflicht, sondern aus dem subjektiven Willen zweier Individuen, die sich irgendwie rechtsförmlich verpflichten. Hier tritt die Vor-Annahme alles Individualismus, die "Autarkie" des Individuums eben, seine "sittliche" Selbstherrlichkeit, recht klar hervor. Die Gemeinschaft ist nicht gleich ursprünglich, sondern es wird, gerade um sie zu erklären, ein Naturzustand im Gegensatz zum Leben im Staate (Status civilis) konstruiert. Für Hobbes, diesen düstern Misanthropen, war der Status naturalis ein Zustand des "Krieges aller gegen alle", den die Menschen um des Nutzens willen durch Vertrag abschafften; die Menschen, die er, seiner wilden Zeit entsprechend, als egoistische Individuen und nicht als Mitmenschen und Rechtsgenossen natürlicherweise sah, die sich mit ihren Interessen als vertragsfähige und streitfähige Machtträger gegenüberstehen und nur um des Nutzens willen sich zum Staate einigen. Dadurch sprengte er, wie Gierke fein bemerkt, das Naturrecht; denn er setzt das vorstaatliche Recht des Naturzustandes zu einem "wirkungslosen Recht" (jus inutile) herab, das in Wahrheit noch nicht einmal den Keim eines Rechtes enthielt. Er ließ im Staat, durch dessen Befehl und Zwang erst (wirkliches) Recht entstehen sollte, jedes von der Natur selbst erzeugte Recht untergehen; er verwarf schlechthin jeden Gedanken einer rechtlichen Gebundenheit der über die Begriffe Recht und Unrecht souverän entscheidenden Staatsgewalt. Das Naturrecht des Hobbes diente eigentlich nur dazu, die geistliche Macht der Kirche zu brechen, um alle Macht dem Staate zu übertragen, dessen Wille allein Gesetz wäre, indem er die einzige Norm des Naturrechtes "Du sollst nach Frieden streben" verwirklicht. Realer Zwang ist ihm so sehr Wesensmerkmal des Rechtes, daß er ein jus utile, ein wirkliches Recht, nur im Staate mit seiner Zwangsgewalt erkennt. Er hat in seinem wirren Denken darum ebensowenig ein Gefühl für Rechte, die über und vor dem positiven Willen des Staates als wahres Naturrecht stehen, wie etwa Rousseau, der mit seiner Fiktion, daß die positive Volonté générale zugleich die Normen des Naturrechts ausdrücke, auch nicht zu einem wahren Naturrecht durchdringen kann. Letzten Endes wird doch bei beiden alles reale Recht Wille und ist nicht Vernunft. Der Deismus zeigte sich hier am deutlichsten. Aus der nun auch metaphysisch isolierten Natur, die entweder von Rousseau zur reinen Güte verklärt wird oder bei Hobbes pessimistisch im Satz: Der Mensch ist des Menschen Wolf, erscheint, soll das Normensystem abgeleitet werden. Menschliche Natur, das ist nun nicht mehr die Gottesidee, das ist der empirische Mensch, diese mit den Mitteln einer mechanisch-naturgesetzlich vorgehenden Psychologie zu erforschende Natur der Menschen. Es sind die "Leidenschaften", das Triebleben, als Mechanismus des homme-machine losgelöst von seinem göttlichen Urgründe, von jeder göttlichen Mitwirkung (concursus divinus), die das Objekt dieser Naturrechtsphilosophen bilden. Der Pessimismus eines Hobbes sah da nur die egoistischen, kriegerischen, machtsüchtigen Triebe, die zu seiner Zeit gewiß eine günstige Umwelt fanden. Die optimistische Schwärmerei Rousseaus sah nur absolute Güte und natürlichen Altruismus. Grotius aber, der mit dem alten Naturrecht verbunden blieb, wird deshalb von Schmauß 1754 heftig getadelt, weil er "das Naturrecht nicht von den Grillen der Scholasticorum gereinigt habe". Diese neuere Naturrechtslehre unterscheidet schroff den vorstaatlichen vom staatlichen Zustand; im vorstaatlichen "natürlichen" herrschte das Naturrecht. In ihm waren die Individuen nur durch das Naturrecht gebunden. Diese vielgerühmte Unterscheidung, die einen rationalistischen Individualismus an den Anfang des Nachdenkens setzte, hatte vor allem eine gewaltige politische Bedeutung. Immer wieder muß darauf hingewiesen werden, das dies neuere Naturrecht nicht verstanden werden kann, wenn man es von diesem seinem politischen Nährboden loslöst. Es ging jenen mit den Pathos des Naturrechts verhüllten politischen Lehren darum, entweder die bestehende legitime Ordnung als der Natur entsprechend nachzuweisen. Dann mußte diese Ordnung irgendwie und irgendwann nach dem Naturrecht und nicht aus Zwang usw. entstanden sein, durch Vertrag, durch freie ausdrückliche oder stillschweigende Unterwerfung unter eine dadurch rechtlich entstehende oder auf Grund ihrer Macht bereits tatsächlich herrschende Autorität. Oder das Naturrecht sollte dazu dienen, von der bestehenden Ordnung zu verlangen, daß sie sich ausweise als zu Recht bestehend, indem sie die natürlichen Rechte des Individuums herstelle. Das war das Naturrecht der Geheimräte und Ratgeber des aufgeklärten absoluten Fürsten, das in den großen Gesetzbüchern des ausgehenden 18. Jahrhunderts seinen Niederschlag fand. Oder es sollte zuletzt das Naturrecht dazu dienen, die bestehende Ordnung als eine völlig ungerechtfertigte Usurpation darzustellen. Das war das revolutionäre Naturrecht des Demokratismus der Väter der amerikanischen und französischen Verfassung, das am bekanntesten ist in der Form des "Contrat social" Rousseaus. Namentlich diese letzte Mischform des neueren Naturrechts ist von größter Bedeutung geworden. Sie lieferte den Sprengstoff, mit dem die alte Welt zerstört wurde, in den modernen Revolutionen politischer und wirtschaftlicher Art. Darauf sei nur kurz hingewiesen: Der Kapitalismus und sein eigentümliches freies Vertragsrecht mit seiner Vorliebe für kurzfristige Verträge, mit seiner individualistischen Eigentumsrechtsordnung wäre ohne das neuere Naturrecht nicht denkbar. Das neuere Naturrecht ist vor allem auch die Mutter der Menschen- und Bürgerrechtserklärungen im Sinne der liberalen Rechtsstaatsidee. Aus den subjektiven Rechten des Status naturalis, die zudem für die meisten, ausgenommen Hobbes, unveräußerlich sind, wird ein ganzer Katalog von natürlichen Rechten lediglich des Individuums abgeleitet, die bloß zu schützen und zu erhalten Zweck und Ziel des Staates ist. Das alles aber war nicht leere Theorie. In der Welt der Wirklichkeit stand der absolute Fürst. Gegen seine geistliche Macht, ausgedrückt in dem Satze: Cujus regio, ejus religio, wird die individuelle Gewissensfreiheit als natürliches Recht verkündet, gegen seine Willkür- und Kabinettsjustiz, seine willkürlichen Konfiszierungen und Verhaftungen der Schutz von Leben, Freiheit und Eigentum als natürliches Recht gepriesen, um dessentwillen der Staat überhaupt da sei.

Die letzte Konsequenz des souveränen Individualismus aber zog diese neuere Naturrechtslehre, indem sie die allgemein geforderte Volkssouveränität allein in der Demokratie ihre richtige politische Form finden ließ. Dem absoluten Fürsten, der seine Macht und sein Recht von Gort, einer überirdischen Instanz, ableitete, gegen dessen Gewalt also das Individuum keine Berufungsmöglichkeit hatte, da ihr Inhaber sich ja auf die höchste berief und ihren Willen einzig und allein auszuführen und zu interpretieren vorgab, stellte man eine Fürstengewalt gegenüber, die nur Mandatar des alleinigen irdischen Souveräns sei, der zum Staatsvolk vertraglich zusammengetretenen Individuen. Am weitesten ging hier Rousseau, der einfach Regierung und Regierte gleichsetzte. Das Individuum bleibt hier immer frei. Zwar gibt es im Augenblicke der Staatsvertragsschließung alle Rechte ab, um den schlechthin souveränen Gemeinwillen zu begründen; aber da der Wille, das heißt der wahre, rechte Wille, des Individuums logisch immer eben mit dem Gemeinwillen übereinstimme, so sei, lehrt man, das Individuum hier ganz frei, da es immer das wolle, was es naturrechtlich wollen könne und müsse. Der Sinn all dieser Theorien war, um das Individuum eine unantastbare Freiheitssphäre zu schaffen und sie gegen jede Form staatlicher Willkürakte zu sichern. Ihr Sinn lag zweitens in ihrer bedeutenden wirtschaftlichen Funktion. Die naturgesetzlich aufgefaßte Berechenbarkeit der kapitalistischen Wirtschaft sollte vor jedem "irrationalen" Eingriff, vor dem willkürlichen Staatseingriff, gewahrt werden; nur die "Naturgesetze" der "Wirtschaft" sollten unter Abkapselung der "Politik" gelten und sich zur sozialen und wirtschaftlichen Harmonie der "Gesellschaft der Freien und Gleichen" auswirken.

Es ist deshalb verständlich, daß dieses Naturrecht verschwand, als in seinen Wirkungsgebieten, den modernen Staaten, seine politischen Ziele für die Klasse, wo es seinen soziologischen Ort hatte, für das Bürgertum, in Gestalt der bürgerlichen Demokratie mit ihrer Verfassung, ihren Grundrechten, dem Parlamentssystem, der Rechtsstaatsidee verwirklicht waren. Daß außerdem die historische Rechtsschule unter Savigny, die dem älteren Naturrecht fremd gegenüberstand, deren Argumente also auch gegen dieses ältere Naturrecht nicht durchschlagend sind, ebenfalls mächtig beitrug zum Verschwinden dieses neueren Naturrechts, ist als Historismus im Recht leicht erklärlich. Allerdings ist heute auf ein Moment noch aufmerksam zu machen, das von Bedeutung werden kann. Die rein formalen Elemente dieses - so darf man unter soziologischem Gesichtswinkel sagen - bürgerlichen Naturrechts scheinen vor einer neuen Phase zu stehen - im proletarischen Denken. Wie einst dem aufstrebenden Bürgertum die Prinzipien Freiheit und Gleichheit, natürlich gegenüber der höheren Schicht des Adels und der absoluten Fürsten, dazu dienen sollten, seine, des Bürgertums, Bestrebungen naturrechtlich zu begründen, so dienen heute dieselben Prinzipien, vom Pathos des Naturrechts verklärt, manchen proletarischen Schichten - "Die Internationale erkämpft das Menschenrecht" - als Grundlage der Revolution gegen die herrschende bürgerliche Klasse. Der Überblick über das neuere Naturrecht läßt erkennen, daß das Ausleseprinzip in bezug auf das, was an irgendwo gefundenen Normen sich nun naturrechtlichen Charakter zuschreibt und damit den ganzen Elan des Unveräußerlichen, Unveränderlichen, in sich notwendig Gerechten bekommt, wie er nun einmal mit der Berufung auf die Natur, der Begründung von Rechten aus der Natur gegeben ist, daß eben dieses Ausleseprinzip politischer Natur ist.

Ganz anders steht das ältere, das scholastische Naturrecht da. Es ist in seiner metaphysischen Verankerung unpolitisch, sagen wir besser metapolitisch. Es ist Rahmenrecht, zeigt die naturgesetzten ethischen und rechtlichen Grenzen an, innerhalb deren positives Recht noch Recht sein kann, das heißt dem Endziel des Menschen und dem Sein und Ziel der wesentlichen Sozialformen entspricht. Das scholastische Naturrecht ist nichts anderes als die organische Zusammenfassung jener Normen der Lex naturalis, die das Gemeinschaftsleben betreffen und deren Objekt sich mit der Gerechtigkeit deckt. Die moralische Ordnung aber stützt sich ganz und gar auf die ontologische Ordnung der Wesenheiten aller Dinge und Geschöpfe. Die Lex naturalis und damit das Jus naturale sind Abglanz der Lex aeterna, des der Weisheit und dem Willen Gottes entstammenden höchsten Weltgesetzes.


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