Predigt am 27.04.2003

- Weißer Sonntag, dm -
(Kirche zum Mitreden, 27.04.2003)
1 Joh 5,4-10; Joh 20,19-31

Im Schott heißt es zum heutigen Weißen Sonntag einleitend: "Der heutige Tag führt den Namen Dominica in Albis (depositis bzw. deponendis): «Sonntag der (abgelegten bzw. abzulegenden) weißen Gewänder». Die weißen Taufkleider, die von den Täuflingen seit Karsamstag getragen wurden, wurden am gestrigen (in manchen Kirchen am heutigen) Tage wieder abgelegt, «jedoch so, daß das schimmernde Weiß, das mit dem Kleide abgelegt wird, im Herzen bewahrt werde» (hl. Augustinus). Quasi modo wird der Sonntag von den Eingangsworten des Introitus genannt."Als Bibelstelle des Introitus, des Eingangsverses, wird ein Vers aus dem Ersten Petrusbrief angegeben. In der Messe lautet der Introitus: "Quasi modo geniti infantes, alleluja: rationabiles, sine dolo lac concupiscite", und der Schott bietet die Übersetzung: "Wie neugeborene Kindlein, alleluja, doch schon voll Einsicht, verlangt ohne Falsch nach Milch". Auch wenn man der lateinischen Sprache nicht mächtig ist, könnten dennoch Teile des lateinischen Textes bekannt klingen. Das Wort infantes, Kleinkinder, liegt dem Wort infantil zugrunde: Infantil bedeutet "wie ein Kleinkind" und wird oft geringschätzig gebraucht im Sinne von unreif, kindisch. "Rationabilis" ist, wie das deutsche Wort rational, abgeleitet von ratio, Verstand, Vernunft. Im griechischen Originaltext steht "logikos"; das logische Denken ist eben das Vernunftgemäße, die Logik ist die Folgerichtigkeit. Auch die lateinischen Wörter "sine dolo", "ohne Hinterlist", könnten bekannt sein. Dolose Handlungen sind arglistige, böswillige Handlungen.
Auf der einen Seite steht die Unreife des Kleinkindes, auf der anderen Seite steht die Vernunft, die Ratio, die Logik. Da stellt sich jetzt die Frage, warum dieser Gegensatz von kindlicher Unreife auf der einen Seite und Vernunft auf der anderen Seite hier praktisch aufgehoben ist: "Wie neugeborene Kindlein, doch schon voll Einsicht".
Man kann über diesen Eingangsvers in zweifacher Weise nachdenken. Zum einen so, wie er in der Liturgie uns vorgestellt wird, also: "Wie neugeborene Kindlein, doch schon voll Einsicht, verlangt ohne Falsch nach Milch." Dabei bezieht man also die beiden näheren Bestimmungen "voll Einsicht" und "ohne Falsch" auf die Kindlein. Hierbei darf man, mit Blick auf die heutige Liturgie des Weißen Sonntags, an diejenigen denken, die am Karsamstag getauft worden sind und die in der Osterwoche die weißen Gewänder getragen haben. Sie stehen am Anfang ihres christlichen Lebens, aber sie sind schon voll Einsicht insofern, als sie Christus als den Erlöser anerkennen und, von der Erbsünde befreit, in der heiligmachenden Gnade stehen. Sie sollen die Milch, die Nahrung für ihr Leben als Christen, "ohne Falsch", ohne bösen Hintergedanken empfangen. Also auch sie sind noch klein und bedürfen des Wachstums, mit Vernunft und ohne Arglist.
Allerdings kann man auch auf andere Weise über den Eingangsvers nachdenken, und zwar so, wie er im Originaltext (1 Petr 2,2) lautet: "Wie neugeborene Kinder verlangt nach der geistigen, lauteren Milch, um durch sie zum Heile heranzuwachsen". Im griechischen Originaltext und dementsprechend in der Vulgata, der lateinischen Übersetzung durch den hl. Hieronymus, werden die näheren Bestimmungen "vernünftig" und "ohne Falsch" auf die Milch bezogen. Die Nahrung soll von Vernunft bestimmt und von Bosheit frei sein. Diese Milch wird von den Bibelkommentatoren bezeichnet als "das lautere und unverfälschte Wort Gottes". Nach der Wahrheit der christlichen Lehre soll man verlangen, aber jeden Trug, jede Bosheit verabscheuen.
Man muss die Unterschiede zwischen dem liturgischen und dem biblischen Text nicht überstrapazieren. Um Wachstum, notwendiges Wachstum, geht es in beiden Sichtweisen. Man muss im christlichen Leben wachsen. Man muss versuchen ein immer besserer Christ zu werden. Man muss gewissermaßen erwachsen werden. Man muss mit Verstand, mit Ratio, mit Logik seinen Weg gehen. Man muss kindische Sichtweisen, kindische Streitereien, kindische Schwärmereien ablegen und meiden. Bosheit, Arglist, dolose Handlungen darf es im christlichen Leben nicht geben.
Aber wie sieht die Wirklichkeit aus? Bemühen wir uns wirklich mit der notwendigen Sorgfalt, kindische Schwärmereien und Oberflächlichkeiten hinter uns zu lassen? Betrachten wir Fragen des christlichen Glaubens wirklich mit der notwendigen Sachlichkeit? Oder lassen wir uns wie kleine Kinder, ohne Vernunft, nur allzugerne von Gerüchten in die Irre leiten? Wenn uns jemand irgend einen groben Unfug ins Ohr flüstert, wie reagieren wir darauf? Überprüfen wir das Gerücht mit nüchterner Sachlichkeit, oder schenken wir ihm gegen jede Vernunft einfach Glauben? Scheuen wir uns, erwiesenermaßen falsche Lehren als falsche Lehren zu erkennen und beim Namen zu nennen, um sie zu verurteilen? Verlangen wir nach der geistigen, lauteren Milch? Oder scheuen wir uns, die geistige, lautere Milch anzunehmen?
Gibt es in unseren Gedanken, Worten und Werken Arglist und Bosheit? Wonach verlangen wir? Verlangen wir nach Wahrheit und Gerechtigkeit, oder nach Unwahrheit und Ungerechtigkeit? Gehen wir mit dem Gebot der Nächstenliebe mit dem notwendigen Ernst oder mit kindischer Leichtfertigkeit um? Ist es nicht vielleicht in dem einen oder anderen Bereich unseres Lebens Zeit, vielleicht sogar höchste Zeit, Kindisches abzulegen? Ist es nicht vielleicht Zeit, mit erwachsener Reife Gutes zu unternehmen und Böses zu unterlassen?
Das heutige Evangelium berichtet auch von der Übertragung der Sündenvergebungsgewalt an die Apostel: "Empfanget den Hl. Geist. Welchen ihr die Sünden nachlassen werdet, denen sind sie nachgelassen; und welchen ihr sie behalten werdet, denen sind sie behalten." Will man Bosheit, Arglist, Leichtfertigkeit ablegen, wird man gerne das Beichtsakrament als Mittel und Hilfe auf dem Weg der christlichen Reifung in Anspruch nehmen. Es wäre kindisch, sich wegen einer Todsünde nur zu schämen, aber nicht das Beichtsakrament zu empfangen, um die heiligmachende Gnade wiederzuerlangen. Es wäre kindisch, aus Scham oder irgend einem anderen Grund vor dem Beichtvater eine Todsünde zu verheimlichen, denn damit wäre die gesamte Beichte unwürdig und ungültig. Eine solche bewusst unvollständige Beichte abzulegen, wäre selbst wieder eine schwere Sünde. Mit mutiger Entschlossenheit muss man sich von seinem sündigen Leben trennen.
Also verlangen wir wieder neu nach der geistigen, lauteren Milch. Trennen wir uns von allem, was das geistige Wachstum hemmt oder verhindert, und nähren wir uns durch "das lautere und unverfälschte Wort Gottes". Amen.

S. auch:
Feiergebot und Fastengebot
Beichtspiegel

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