Judentum - Christentum - Germanentum (2)

- Kardinal Michael von Faulhaber (1869 - 1952), Adventspredigten 1933: 2. Adventssonntag -
(Kirche zum Mitreden, 09.12.2007)
Predigt 03.12.1933


Predigt 10.12.1933: Die sittlichen Werte des Alten Testamentes und ihre Aufwertung im Evangelium

»Alles, was in der Vorzeit aufgeschrieben wurde, ist zu unserer Belehrung aufgeschrieben, damit wir durch Geduld und Tröstung aus den Hl. Schriften festhalten an der Hoffnung«. Röm. 15,4.

In der letzten Adventspredigt haben wir auf die religiösen und religionsgeschichtlichen Werte in den Hl. Büchern des vorchristlichen Judentums hingewiesen, auf den Gottesgedanken, der in der Kulturgeschichte des Altertums eine einzigartige Höhenlinie aufweist, auf den Erlösergedanken, der mit dem Licht des Morgensterns durch den Advent des Alten Bundes leuchtet. Wir haben auch auf die ewigen liturgischen Werte des Alten Testamentes hingewiesen, auf die Psalmen und sonstigen Texte, die in das Brevier, in das Meßbuch, in die gesamte Liturgie der Kirche übernommen wurden. Die Namen Ostern und Pfingsten im christlichen Kalender sind altbiblischer Herkunft. »Das alles zum Vorbild für uns« (l Kor. 10,6). Und wenn der Priester des Neuen Bundes das Opfer der Hl. Messe darbringt, betet er dabei: Gott möge dieses Opfer annehmen, wie er das Opfer Abels, das Opfer Abrahams und das des Melchisedech angenommen habe. Wir haben auf die erzieherischen Werte in den alttestamentlichen Büchern hingewiesen und auch aus diesem Grund Ehrfurcht vor den Büchern von Sion und die Beibehaltung der biblischen Geschichte in den deutschen Schulen gefordert. Vieles am Alten Bund hatte nur zeitgeschichtlichen Wert, wie die langen Kriegsgeschichten, die Stammregister mit den vielen Namen, zum Teil auch die Strafpredigten der Propheten. Vieles aber hat, mehr oder minder umgewertet und aufgewertet, für die Zeiten des Evangeliums ewigen Wert behalten. Die schwersten Geschütze werden heute nicht gegen die religiösen, sondern gegen die sittlichen Werte des Alten Bundes aufgefahren. Die letzten Vorstöße gegen den Bibelunterricht in der Schule wurden damit begründet, daß man sagte, der Erzvater Jakob, der Erbschleicher, und der ägyptische Josef, der Getreidewucherer, und andere Ungeheuer seien doch für die Schulkinder keine sittlichen Vorbilder. Dabei wurden den Hl. Schriften des Alten Bundes, auf die alle christlichen Bekenntnisse mit Ehrfurcht die Hände legen, Lästernamen gegeben, die hier im Heiligtum nicht wiederholt werden können. Darum stelle ich die Predigt des zweiten Adventssonntags unter das Thema: Die sittlichen Werte des Alten Testamentes und ihre Aufwertung im Evangelium. Die heutige Sonntagsepistel beginnt mit dem Pauluswort: »Alles, was in der Vorzeit aufgeschrieben wurde, ist zu unserer Belehrung aufgeschrieben«. Der Geist Gottes, der die Hl. Schriften des Alten so gut wie die des Neuen Bundes eingegeben hat, ist nicht bloß ein Geist der religiösen Wahrheit, er ist auch ein Geist der Heiligkeit und sittlichen Sauberkeit. Darum sind seine Bücher nicht bloß Lehrbücher der religiösen Ordnung, sie sind auch Lehrbücher der sittlichen Ordnung. Wir sollen durch das Studium und die Betrachtung der Hl. Schriften nicht bloß im Glauben wachsen, wir sollen auch sittlicher und besser dabei werden. Es handelt sich auch heute nur um die Hl. Schriften des vorchristlichen Judentums. Wir stellen diese Betrachtung über die sittlichen Werte des Alten Testamentes unter den Schutz der Immaculata, der makellosen lilienweißen Blüte des Alten Testamentes, dem hochragenden Bild sittlicher Größe.

Die Lichter der alttestamentlichen Sittenlehre.

1. Die oberste Regel des sittlichen Handels ist der Wille Gottes. Darum beten die Psalmen: »Herr, zeige mir Deine Wege! Sende mir Dein Licht, um Deine Wege zu erkennen! Umgürte mich mit Deiner Kraft, um Deine Wege zu gehen und ohne Seitensprünge auf Deinen Wegen zu beharren«. In den zehn Geboten vom Sinai ist der Wille Gottes auf die kürzeste und doch unendlich tiefe Formel gebracht. Die zehn Gebote hätten zur Not auch vom gesunden Menschenverstand dem Naturrecht abgelauscht werden können. Daß man einander nicht totschlagen, nicht betrügen und ausplündern darf, wenn ein menschenwürdiges Gemeinschaftsleben zustande kommen soll, konnte auch menschliche Weisheit entdecken. Helleres Licht aber und höhere Autoritat haben diese zehn Gebote dadurch erhalten und unabänderlich für menschliche Willkür sind siedadurch geworden, daßsieals Offenbarung Gottes mit dem Namen Gottes unterschrieben sind. So will ich dein persönliches Leben und dein Leben innerhalb der Volksgemeinschaft geordnet haben, spricht der Herr: »Du sollst an den Einen Gott glauben, seinen Namen nicht eitel nennen, seinen Tag heilig halten. Du sollst Vater und Mutter ehren, nicht töten, die eheliche Treue nicht brechen, nicht stehlen, nicht lügen«. Diese zehn Gebote sind die ewigen Grundwerte der sittlichen Weltordnung, die ewigen Grundgesetze für jede Volksgemeinschaft, die ewigen Maßstäbe für alle Staatsgesetze und Rechtsurkunden, die ewigen Ecksteine für jedes sittliche Familienleben, der zehnarmige Leuchter, dessen Lichter heute noch weiterleuchten.
Das Zehngebot auf den Tafeln vom Sinai ragt in seinem sittlichen Wert himmelhoch über alle Gesetze des außerbiblischen Altertums empor. Besonders in zweifacher Hinsicht: Zunächst dadurch, daß im Zehngebot die sittliche Ordnung mit dem Gottesgedanken religiös unterbaut wird. Auf der ersten Tafel stehen die sittlichen Pflichten des Menschen Gott gegenüber: Du sollst den Herrn, deinen Gott anbeten, seinen Namen in Ehren halten, seinen Tag heiligen! Auf der zweiten Tafel die sittlichen Pflichten des Menschen dem Menschen gegenüber: Du sollst das Familienleben heilig halten, Leben und Gesundheit deines Mitmenschen achten, die angelobte Treue halten, das Eigentum und die Ehre des Nächsten achten. Es gibt also keine Achtung vor Menschenrechten, keine Volksmoral, wo es keine Gottesfurcht, keine Religion gibt. Das Gesetz des Herrn ist vom Herrn des Gesetzes nicht zu trennen. In aller Welt wird eine sittliche Ordnung oder gar ein Paradies nicht errichtet werden, wenn die sittliche Ordnung nicht auf dem Gottesglauben aufgebaut wird. Ein zweiter großer Vorzug liegt darin, daß im Zehngebot nicht bloß die äußere Bosheit in Worten und Werken verboten, daß auch die innere Gesinnung geordnet und dem Willen Gottes unter» geordnet wird. »Seid heilig, wie der Herr, euer Gott, heilig ist« (Levit. 19, 2.26; 21, 8). Die Gesetze von Babylon reichen an diese sittliche Größe nicht heran, weil ihre guten Lehren mit Aberglauben und Zauberformeln vermengt, und ihre Götter, vor allem die Göttin Istar, keine sittlichen Vorbilder sind. Das hellste Licht der alttestamentlichen Sittenlehre strahlt also aus den zehn Geboten vom Sinai.
2. Es entspricht dem innersten Wesen der Bibel, des Buches der Wahrheit, daß darin die sittliche Tugend der Wahrhaftigkeit so stark betont, und alle Lüge, alles zwiespältige und zweizüngige Wesen so stark abgelehnt wird. Das 8. Gebot »Du sollst kein falsches Zeugnis geben gegen deinen Nächsten» (Exod. 20,16), ist im besonderen ein Schutzgesetz der Wahrhaftigkeit. Man muß selber wahr sein, um die Wahrheit zu verstehen. Man darf nicht zwischen Wahrheit und Lüge hin und her schwanken. »Ein häßlicher Schandfleck am Menschen ist die Lüge« (Sir. 20,26). Pharisäerart ist es, mit einem »doppelten Herzen« zu reden (Ps. 11,2). Ein anderes Gesetz könnte uns zunächst befremden: Du sollst einen Ochsen und einen Esel nicht zusammen an den Pflug spannen, du sollst nicht zugleich Winter- und Sommerkleider tragen (Deut. 22,10f). Das ist in morgenländischer sprichwörtlicher Sprache auch nur ein Gebot: Du sollst das zwiespältige Wesen und den inneren Widerspruch ablegen.
3. Helle Lichter der alttestamentlichen Sittenlehre leuchten aus dem Buch der Sinnsprüche und den übrigen Weisheitsbüchern. In diesen Büchern finden wir zunächst hausbackene Anstands- und Gesundheitsregeln für das tägliche Leben: Man solle bei Tisch nicht die ersten Plätze und die besten Leckerbissen für sich beanspruchen (Spr. 23,1-3; Sir. 31,12-21), man solle nicht an der Türe horchen (Sir. 21,23) und sich selten machen (Spr. 25,17). Dazwischen stehen sprichwörtliche Lebensregeln, von denen manche in den Sprichwörterschatz unseres Volkes übernommen wurden: Unrecht Gut gedeiht nicht (Spr. 10,2), Hochmut kommt vor dem Fall (Spr. 16,18), Jung gewohnt, alt getan (Spr. 22,6). Diese Anstands- und Lebensregeln könnten ebensogut bei einem indischen oder arabischen Weisen sich finden. Sie beweisen nur, daß auch das alltätliche Leben in die sittliche Ordnung eingebaut werden soll.
Dann aber verkünden die biblischen Lehrbücher höhere Weisheit. Nicht die Weisheit der Gasse, nicht die Weisheit der gelehrten Schulen, sondern die gottgewollte Lebensordnung, deren Anfang und Krone die Furcht des Herrn ist (Spr. 1,6; 8,19; 6-9). »Den Herrn fürchten und die Sünde meiden«, das ist die Weisheit der Wcisheitsbücher (Job 28,28). Die häufige Anrede »Höre, mein Sohn« und der lehrhafte Ton deuten darauf, daß diese Bücher dem Unterricht und der Erziehung der Jugend gedient haben. Darum wird oft und oft die Ehrfurcht vor den Eltcrn gefordert, die Ehrfurcht vor dem Alter (Spr. 16,31), die Ehrfurcht vor der Frau (Spr. 14,1). Hier leuchtet ein ganz helles Licht aus den Hl. Büchern auf: Im außerbiblischen Morgenland jener Zeit war die Frau rechtlose Sklavin, in den biblischen Büchern wird sie um die gleiche Zeit die Ehrenkrone des Mannes genannt (Spr. 12,4), und im 4. Gebot »Du sollst Vater und Mutter ehren« wird die Mutter vor den Kindern dem Vater gleichgestellt. Solche Wertung der Frau war nicht vom Fleisch und Blut des Morgenlandes geoffenbart.
Im Schlußkapitel des Buches der Sinnsprüche (31,10-31) wird auf eine ideale Frauengestalt ein Loblied gesungen und das Bild einer Frau nach dem Wohlgefallen Gottes gemalt, das folgende fünf Charakterzüge enthält: Hingabe an die Familie, Freude an der Arbeit und Hauswirtschaft, Milde gegenüber Dienstboten und Armen, Geistesbildung und Frömmigkeit. Hier ist ein ewiger Beichtspiegel aufgestellt, vor dem die Frauenwelt aller Zeiten ihr Gewissen erforschen mag. Das Gegenstück dazu, ein ewiger Beichtspiegel für die Männer, ist im 31. Kapitel des Buches Job gegeben. Dort gelobt ein Mann sittliche Selbstbeherrschung und eheliche Treue, Ehrlichkeit in Handel und Wandel (er war offenbar ein Kaufmann), Ehrfurcht vor den Rechten der Dienstboten und Arbeiter, Mitleid mit den Armen (seine Türe soll dem Obdachlosen offen stehen und die Wolle seiner Schafe soll den Frierenden erwärmen). Das alles im Hinblick auf den höchsten Herrn im Himmel, vor dessen Augen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gleich sind. Diese beiden Kapitel mit dem Frauenspicgel und dem Männerspiegel sind Höhepunkte der altbiblischen Sittenlehre.
4. Wegweiser der sittlichen Ordnung sollten sogar die Speisegesetze des Alten Bundes sein, über die soviel gespottet wird. Ihr sollt nicht vom Fleisch eines Tieres essen, das ein Tier bereits angefressen hat (Exod. 22,31). Ihr sollt eure Seele nicht beflecken durch Essen eines Tieres, das im Staub der Erde kriecht (Levit. 41,44). Solche Speisegcsctze wollen sagen: Ihr sollt allem Tierischen fernbleiben und Abstand halten von allem, was Staub und Schlange ist. Im Bild der Immaculata, die den Fuß auf die Schlange im Staube setzt, ist der gleiche Gedanke bilderschriftlich ausgesprochen. Abstand von allem Tierischen und Abstand von allem Heidnischen! Die Fülle von Vorschriften über das, was die Israeliten nach mosaischem Gesetz essen und was sie nicht essen durften, erinnern an das Pauluswort vom »Joch« des Gesetzes (Gal. 5,1). Wir fragen uns, ob die Kinder damals wirklich diese langen Speisezcttel mit der Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren auswendig lernten. Der Sinn all dieser Speisegesetze war: Ihr sollt mit den Heiden, auf deren Tisch Schweinefleisch (Levit. 11,7 f) und die anderen für euch unreinen Tiere lagen, keine Tischgemeinschaft und überhaupt keinen gesellschaftlichen Verkehr haben. Die Speisegesetze haben also eine trennende Wand zwischen Juden und Heiden aufgerichtet. Sie wurden folgerichtig überflüssig, als diese Wand in der Offenbarung an den Apostel Petrus (Apg. 11, 5-10) weggenommen wurde.
5. Lichter altbiblischer Sittlichkeit leuchten, heller als aus trockenen Paragraphen, aus einzelnen lebendigen Bildern sittlicher Größe. Erzvater Joseph sieht im Land der Verbannung die Stunde kommen, in der er das Zeitliche segnen und zu den Vätern versammelt werden soll. Er war kein Getreidewucherer gewesen. Er hatte als Werkmann der Vorsehung und als kluger Volkswirtschaftler in den fetten Jahren in den Scheunen des Königs das überflüssige Getreide aufgespeichert. Er hatte es nicht auf den Weltmarkt der Phönizier geworfen. Er hatte es für die mageren Jahre aufgespart und so das Volk vor dem Hungertod gerettet. Das ist kein Getreidewucher, weil es ein Dienst am Volk, keine Selbstbereicherung war. Nun sammelt er, wie schon sein Vater Jakob (Gen. 49,29), seine Söhne um sein Sterbelager. »Nach meinem Tod wird Gott euch in das Land führen, das er unsern Vätern verheißen. Dann nehmt meine Totengebeine mit euch« (Gen. 50,23f, Exod. 13,19). Dort im Lande der Verheißung wird einmal der Erlöser des Weges kommen, und dann wird sein Schatten auf das Grab der Erzväter in Mambre fallen. Welch sittliche Größe spricht aus diesem Glauben an das Wort Gottes! Unglaube ist Dunkel, Glaube ist helles Leuchten und setzt sogar die dunkle Todesstunde in helles Licht.
Ein anderes Lichtbild sittlicher Größe ist Moses, der Führer des Volkes, der größte Gesetzgeber der alten Welt, in aller Weisheit der Ägypter unterrichtet und dazu mit dem Wunderstab des Himmels ausgerüstet. Drei Berge stehen wie Marksteine an seinem Lebensweg: der Horeb, wo er auf einsamer Höhe aus dem brennenden Dornbusch Berufung und Sendung erhält. Der Sinai, wo er sozusagen in stillen Exerzitien mit dem Herrn Zwiesprach führt. Der Nebo, von dessen Höhe er das gelobte Land aus der Ferne grüßt. Michelangelo hat diesen großen Führer in Marmor gemeißelt, Erzbischof Pyrker hat ihn im Epos besungen. Groß war Moses, als er den Wunderstab erhob und die ägyptischen Zauberer zuschanden machte. Größer, als er gegen den Tanz um das goldene Kalb wetterte und in heiligem Zorn die Tafeln am Felsen zerschmetterte. Am größten, als er vor dem Herrn sich bereit erklärte, sein Leben für sein widerspenstiges Volk zu opfern: Herr, »entweder vergib ihnen diese Sünde oder streiche mich aus aus deinem Lebensbuch« (Exod. 32,31). Welch sittliche Größe, welch todesstarke Liebe zum Volk leuchtet aus diesem Gebet des großen Führers!
Ein drittes Bild sittlicher Größe ist Job, der Dulder. Wie meisterhaft sind in dem Buch, das seinen Namen trägt, seine Seelenkämpfe geschildert! Zuerst ein Wort stiller Ergebung: »Haben wir das Gute aus Gottes Hand entgegengenommen, warum sollen wir nicht auch das Ungute entgegennehmen« (2,10)? Dann aber bäumt sich die leidensscheue Natur wieder auf und mit einem Aufschrei der Ungeduld flucht er dem Tage, an dem er geboren wurde. Dann ein Hin und Herwanken zwischen Hoffnung und Verzweiflung, zwischen Lebenwollen und Sterbenwollen. Zuletzt ein sieghafter Abschluß der Seelenkämpfe: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt« (19,25). Job ist nicht ein Vorbild fertiger Geduld, er ist ein Vorbild ringender Geduld, aber gerade deshalb unser Vorbild. Unser Vorbild, weil auch unsere leidensscheue Natur gegen das Leiden sich aufbäumt. Unser Vorbild, weil auch wir durch alle Seelenkämpfe hindurch glauben müssen: Mein Erlöser lebt. »Alles, was in der Vorzeit aufgeschrieben wurde, ist zu unserer Belehrung aufgeschrieben, damit wir durch Geduld und Tröstung aus den Hl. Schriften festhalten an der Hoffnung«, die alle Glaubensschwäche und Leidensscheu überwindet.

Die Schatten der alttestamentlichen Sittenlehre.

Wir nehmen das Alte Testament in Schutz gegen den Vorwurf absoluter Wertlosigkeit, wir wollen aber wahrhaftig das Sittengemälde des vorchristlichen Judentums nicht zu hell malen. Die Wirklichkeit des Lebens ist, wie bei allen Religionen und Rassen, weit hinter dem Ideal der Sittengebote zurückgeblieben. Neben den vielen Lichtern gab es tiefe Schatten, neben der Wahrheit viel Lüge, neben der Weisheit viel Torheit, neben dem Glauben viel Unglauben, neben hohen sittlichen Werten viel Minderwertiges.
1. Der schwerste Vorwurf, der heute gegen die aittestamentliche Sittenlehre erhoben wird, ist der Vorwurf der Lohnmoral. In den letzten Jahren wurde das 4. Gebot immer wieder als undeutsch abgelehnt, weil es die Verheißung mit sich führe: Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden. Im Sportpalast in Berlin haben die Deutschen Christen am 13. November 1933 die Entschließung angenommen: »Wir erwarten, daß unsere Landeskirche sich frei macht von allem Undeutschen, im besondern vom Alten Testament und seiner jüdischen Lohnmoral«. Es ist wahr: Die Frommen des Alten Testamentes erwarteten sich als Lohn für ihre Frömmigkeit auch irdische Segensgüter. Daß ihre Speicher mit Getreide sich füllen und ihre Keltern von Wein überfließen (Spr. 3,10). Daß die Gottesfurcht auch Ehrenkronen bringe (4,8 f) und ein langes Leben (10,27). Es ist aber nicht wahr, wenn man sagt, durch das 4. Gebot werde das kaufmännische Abrechnen mit Gott den Kindern eingeimpft und eine undeutsche Lohnsucht groß gezogen und heilig gesprochen. Gewiß ist es der Hochstand der Sittlichkeit, aus reiner Liebe zu Gott und zum Guten, ohne jede Hoffnung auf Barzahlung oder Zukunftswechsel, den Weg der Tugend zu wandeln und seine Lebensführung unentwegt dem sittlichen Ideal anzugleichen. Zu solcher Höhe werden sich aber nur die Heiligen erschwingen, von denen einer betet: »Herr ich liebe Dich, nicht daß Du mich selig machest und vor der Hölle bewahrest, ich liebe Dich rein um Deinetwillen«. Dem Kind in der Schule wird ein kluger Erzieher bei der Erklärung des 4. Gebotes nicht gleich mit den höchsten sittlichen Beweggründen kommen, und auch die erwachsenen Durchschnittsmenschen dürfen sich in müden und schwachen Stunden an die Verheißungen des Herrn klammern und Wohlergehen und langes Leben von ihm hoffen. Wenn einer kommt und beteuert, er tue das Gute einzig und allein um des Guten willen, ohne einen Lohn zu erwarten, dann sage ich ihm: Freund, du bist entweder ein Heiliger, einer von den ganz wenigen, oder ein Heuchler in Selbsttäuschung. Sind die Gegner der alttestamentlichen Verheißungen wirklich so weit von aller Lohnsucht abgerückt, daß sie für ihre Leistungen niemals eine Anerkennung, eine Gehaltserhöhung, eine Beförderung oder sonst einen Lohn erwarten? Christus hat auf die Frage der Apostel »Was für ein Lohn wird uns werden« (Matth. 19,27) geantwortet: »Euer Lohn wird groß sein« (Luk.6, 23.35). »Lernet von mir demütig und sanft» mutig zu sein und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen« (Matth. 11,29). Eine Sittenlehre, die für alle Menschen aufgestellt wird, muß neben den vollkommensten auch weniger vollkommene Beweggründe gelten lassen.
2. Ein Schatten liegt auf einzelnen sittlich anstößigen Erzählungen undTexten der alttestamentlichen Bücher. Onan hat einem furchtbaren Laster den Namen gegeben. Thamar hat auf öffentlicher Straße ihre Ehre verkauft. Andere Stellen erzählen von der Schamlosigkeit Chams, von den Töchtern Lots, von Rahab, der Buhlerin von Jericho. Im Buche der Sinnsprüche spielt die Torheit die Rolle einer Straßendirne. Im Hohenlied finden sich einige sittlich anstößige Stellen, im hebräischen Urtext noch anstößiger als in den Übersetzungen, und ebenso im Buche Ezechiel.
Die Hl. Schriften haben diese allzu menschlichen Dinge erzählt in der Sprache ihrer Zeit, in der Sprache eines naturverbundenen Hirtenvolkes. Die Hl. Schriften haben aber damit jene Schamlosigkeiten nicht anerkannt und das Unsittliche nicht sittlich genannt. Im Gegenteil. Sie erzählen auch, daß die Strafe den Untaten auf dem Fuße folgte, wie bei Onan, und die Propheten, die den Großen ihrer Zeit ohne Scheu die Wahrheit ins Gesicht sagten, haben auch dem königlichen Ehebrecher die Strafe Gottes angekündigt (2 Kön. 12,10f). Solange der Herr Menschen und nicht die reinen Geister des Himmels zu Werkleuten seines Heilswerkes macht, solange wird das allzu Menschliche immer wieder zum Vorschein kommen. Kein Pharisäer wird behaupten wollen, jene Laster seien bei den Völkern des Neuen Bundes ausgestorben. Aus dem öffentlichen Leben unseres Volkes wurde Gott sei Dank in den letzten Monaten mit eisernem Besen viel Sittenlosigkeit ausgekehrt, es wäre aber jüdischer Pharisäismus, wollten wir Gott danken, daß wir viel besser wären als andere Rassen, und daß unsere Großstädte Tugendgärten wären im Vergleich mit Sodoma und Gomorrha.
Eines ist richtig: Die Vollbibel gehört nicht in die Hand der unreifen Schuljugend. Die Hl. Schrift ist für sittlich reife Menschen geschrieben. Schon die Synagoge des Alten Bundes 14 hat der Jugend das Hohelied und das Buch Ezechiel vorenthalten, weil an den Glutfarben einiger Texte heißblütige, leicht entzündliche Seelen Feuer fangen konnten. Es genügt, wenn der Schuljugend statt der Vollbibel mit 1335 Kapiteln eine Auslese der schönsten biblischen Geschichten dargeboten wird. Wer die biblischen Geschichten ganz aus der Schule nähme, würde viele Sterne am Kinderhimmel auslöschen. Nach dem Gesagten können wir auch das Wort der Bremer Lehrerschaft von 1905 nicht allgemein gelten lassen: »Die sittlichen Anschauungen des Alten Testamentes seien unserer Zeit fremd geworden«. Für einzelne Texte kann das gelten, im Ganzen aber bleibt das Alte Testament die Chronik der wunderbaren göttlichen Erziehungskunst, die mit den Schwächen der Ziehkinder Nachsicht hatte und doch ihr Ziel erreichte.
3. Ein tiefer Schatten liegt für christliches Empfinden auf den Fluchpsalmen und Racheliedern des Alten Bundes. Der Sänger des 69. Psalmes betet: »Herr, eile mir zu helfen«, um die Feinde niederzuhauen. Der Sänger des 138. Psalmes verwünscht seinen Feind, es möge der Fluch ihn von allen Seiten umgeben wie ein Kleid, in sein Inneres dringen wie das Wasser, das er trinkt, und seine Knochen erfassen wie das Öl, mit dem er sich salbt. Der Sänger des 138. Psalmes beteuert vor Gott, er »hasse seine Feinde mit glühendem Hasse«. Diese Feinde, wahrscheinlich Heliodorusmenschen, Frevler am Heiligen, gelten dem Psalmisten, dem Wächter des Heiligen, wie persönliche Feinde, und in seinem Eifer für Gottes Ehre glaubt er den Fluch nachsprechen zu dürfen, den Gott über allen Schlangensamen ausgesprochen hat. In anderen Racheliedern mag der Gedanke der Blutrache durchschimmern, die damals in Geltung war. Christus hat mit diesen Racheliedern aufgeräumt. »Ihr habt gehört es wurde gesagt:Aug um Aug, Zahn um Zahn« (Matth. 5,38). »Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde! Tut Gutes denen, die euch hassen, und betet für die, die euch verfolgen und verleumden« (5,44). Aus alten Tagen klingt der Fluch: Für Lamech wird nicht bloß siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal Rache genommen (Gen. 4,24). Christus hat diesem alten Rachelied, dem ersten Lied der Bibel, mit offensichtlicher Anspielung auf seinen Wortlaut das neue Gebot entgegengestellt, dem Bruder, der gefehlt hat, nicht bloß siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal zu verzeihen (Matth. 18,22). Wir stehen hier vor jenem Gesetz der christlichen Sittenlehre, das die germanische Seele am schwersten fassen will. Mit dem Gebot der Feindesliebe werden zwar das Gebot der Selbstliebe und das Recht der Selbstbehauptung nicht aufgehoben, im Reiche Christi aber gibt es neben der Tatkraft auch eine Leidenskraft, neben der tätigen Tugend die sogenannten passiven Tugenden der Geduld und verzeihenden Liebe, die mehr sittliche Kraft und Größe in sich schließen als die Tugenden der Tatkraft. Wir haben keine andere Wahl: Entweder sind wir Jünger Christi oder wir fallen in das Judentum der biblischen Vorzeit und seine Rachelieder zurück.
4. Ein tiefer Schatten liegt auf manchen biblischen Gestalten. Den Gegnern des Alten Testamentes gilt der Erzvater Jakob sprichwörtlich als der wahre Jakob, als Erbschleicher und Betrüger. Zusammen mit der Mutter hat er unter Vorspiegelung falscher Tatsachen vom blinden Vater die Erstgeburt erschlichen und so seinen Bruder Esau um das Recht der Erstgeburt betrogen. Die Hl. Schrift erzählt das, ohne es gut zu heißen. Wir versuchen keine Mohrenwäsche, den Erzvater Jakob vom Vorwurf des Betruges rein zu waschen. Die Untat Jakobs liegt tatsächlich als tiefer Schatten über seinem Charakterbild.
Wie alles aus der Vorzeit ist auch diese biblische Geschichte »zu unserer Belehrung« aufgeschrieben. Der Allmächtige kann auch auf krummen Linien gerade schreiben und die Bosheit der Menschen für seinen Heilsplan zum Guten lenken. Das Recht der Erstgeburt war nicht bloß das Erbrecht auf irdischen Bodenbesitz und sonstiges Vermögen. Das Recht der Erstgeburt war bei den Erzvätern zugleich das Anrecht, als Träger der Verheißung Stammvater des Schlangentreters zu werden. Durch den Übergang dieses Rechtes von Esau auf Jakob wurde festgestellt: Nicht das Vorrecht der Geburt, nicht Fleisch und Blut haben hier allein zu entscheiden. Der Herr behält die Freiheit seiner Gnadenwahl, auch einen Nachgeborenen zum Stammvater des Gesalbten zu bestimmen.
Ein Schatten der Lüge liegt auch auf dem Charakterbild der heldenhaften Judith von Bethulia. Ihre Vaterstadt ist in größter Kriegsnot, von den Assyrern belagert. Wenn nicht bald Hilfe kommt, ist die Stadt mitsamt den Einwohnern verloren, und das bedeutet nach damaligem Kriegsrecht Tod und Untergang. Da schmückt sich Judith mit ihrem schönsten Schmuck und geht zur Stadt hinaus in das Lager der Feinde, um Holofernes zu ermorden. Den Vorposten erklärt sie lügenhaft, sie wolle zu den Feinden übergehen, da die Sache ihres Volkes doch verloren sei. Mit einer neuen Lüge bahnt sie sich den Weg zu Holofernes, schmeichelt sich in sein Vertrauen und schlägt ihm den Kopf ab (Judith 8,15). Judith handelte ohne Zweifel in gutem Glauben, sie dürfe um den Preis einer Lüge ihr Volk und Vaterland retten. Nun aber kommen die Sittenwächter und erklären in einem vielgelesenen Buch: »Das Alte Testament ist ein Buch voll jüdischer Lügereien und Betrügereien«, da darf man doch fragen: Wenn unser Volk und Vaterland so totsicher vor dem Untergang stünde wie Bethulia, und ihr könntet es mit einet Lüge retten, würdet ihr euer Volk und Vaterland zugrunde gehen lassen und mit eurem zarten Gewissen erklären: Man darf nicht lügen? Wollt ihr im Ernst die biblische Heldenfrau mit ihrem I.obgesang zu Gottes Ehre (Judith 16) sittlich tiefer stellen als die germanische Kriemhild mit ihrem Haßgesang? Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf die Heldin von Bethulia. Judith bleibt trotz ihrer Lüge ein Vorbild der weiblichen Jugend, nicht weil sie gelogen, sondern weil sie ihr Volk und Vaterland geliebt hat.
Einen Schatten finden manche Augen an dem Verfasser des Predigerbuches. Der Verfasser des kleinen Büchleins, das den Namen Ecclesiastes oder Prediger führt, ist weite Irrwege gegangen, bis er zum Glauben an Gott und an das Jenseits gelangte. Er beschreibt uns mit jener Offenheit, mit der Augustinus seine Bekenntnisse schrieb, diese Irrwege seiner Jugend. Er habe zuerst das Leben genießen wollen nach dem Grundsatz der Epikuräer, man müsse essen und trinken und sichs wohl sein lassen. Darüber sei er auch an Gott irre geworden und habe alles für Schwindel erklärt (omnia vanitas) und den Glauben seiner Jugend weggeworfen. Zuletzt aber habe er seinen Gott wiedergefunden und darum ruft er seinen Altersgenossen zu: »Gedenke deines Schöpfers in den Tagen deiner Jugend! Gott wird alles vor sein Gericht bringen« (Pred. 12,1. 13f.). Dieser Mann bleibt trotz seiner Irrwege ein Vorbild für die männliche Jugend, nicht weil er Irrwege gegangen, sondern weil er mit gutem Willen und der Gnade Gottes zum Glauben zurückgefunden hat. Auch das ist »zu unserer Belehrung« aufgeschrieben. Die biblischen Charakterbilder sind keine fertigen Heiligen gewesen. Sie haben das Gesetz im Geist und »das andere Gesetz im Fleisch« (Rom. 6,23) gefühlt. Sie waren aber ehrlich genug, ihre Untat einzusehen und auf Irrwegen Kehrt zu machen, und gerade darum sind sie sittliche Vorbilder für die Jugend aller Zeiten. Die Kraft der göttlichen Gnade vollendet sich gerade in der Schwachheit der Menschennatur (2 Kor. 12,9).
Christus hat die Lichter der alttestamentlichen Sittenlehre nicht ausgelöscht. Er hat die sittlichen Werte der Vorzeit im Evangelium aufgewertet. Er hat dem sittlichen Streben höhere Ziele gesteckt, den Bau der sittlichen Ordnung höher geführt, den ringenden Seelen reichere Gnade gegeben. »Wo die Sünde in Fülle war, flutet die Gnade in noch größerer Fülle« (Rom. 5, 20). Christus hat im besondern die zehn Gebote auch weiterhin gelten lassen als Unterbau der christlichen Sittenordnung und sie dadurch aufgewertet, daß er die mosaischen Gebote als seine Gebote neu verkündete. »Willst du zum Leben eingehen, halte die Gebote« (Matth. 19,17). Christus hat das Vielerlei der alttestamentlichen Gebote in dem einen Gebot der Liebe zusammengefaßt und damit, wie sein Jünger sagt (Röm. l3,10), das ganze Gesetz der Vorzeit erfüllt. Wir haben kein Recht, für unrein zu erklären, was Christus für rein erklärt und in sein Evangelium übernommen hat.
Wohl aber dürfen wir und müssen wir von den Schatten der alttestamentlichen Sittenlehre uns frei machen. Die Losung unserer Tage »Los vom Alten Testament« kann also für uns nur bedeuten: Los von den Schatten des Allen Testamentes! Los von allem, was Cham und Onan und Thamar waren! »Brüder, ihr seid zur Freiheit der Kinder Gottes berufen«, schreibt der Apostel, ihr habt das Joch der alten Gesetze abgeworfcn, »ihr dürft aber diese Freiheit nicht gebrauchen, um dem Fleische nachzugehen« (Gal. 13,19). Los vom Alten Testament kann für uns nur bedeuten: Los von dem Pharisäismus, der so wenig von den vielen Lichtern des Alten spricht und so viel von seinen wenigen Schatten! Der am eigenen Volk nichts als Lichter und an anderen Rassen nichts als Schatten findet! Los von den Fluch- und Racheliedern des Alten Testamentes! Der Haß ist keine christliche Tugend, gleichviel gegen wen er sich richtet. Rachsucht ist Rückfall in die jüdische Vorzeit. Los von der Lügenhaftigkeit Jakobs und von der Genußsucht eines Ecclesiastes! Wir müssen uns von den Schatten der altjüdischen Sittenlehre frei machen.
Je wilder in einigen Gestalten des Alten Testamentes die Leidenschaften der unerlösten Natur durchbrachen, sogar bei Stammvätern und Stammmüttern Christi, um so lauter wurde der Adventsruf der Unerlösten nach dem Erlöser. Es lag trotz allem etwas sittlich Großes in der Sehnsucht der vorchristlichen Menschheit nach dem Erlöser, in dem »Festhalten an der Hoffnung«. Die Gerechten des Alten Bundes haben Ihn nicht gesehen und doch an Ihn geglaubt. Mit ihrem Glauben und ihrer Sehnsucht sind sie aus weiter Ferne Ihm entgegengezogen. Da dürfen wir, die Kinder der Nähe, nicht zurückbleiben. Da müssen auch wir in diesen Adventswochen unsere Seele bereiten und dem Christkind von Weihnachten entgegenziehen. Selig, die nach dem Heiland Sehnsucht haben, ihre Sehnsucht wird erfüllt werden. Amen.


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